Der Verteidiger des Betroffenen zeigte eine Woche vor dem Hauptverhandlungstermin seine Mandatierung an und beantragte Akteneinsicht. Das Gericht teilte dem Verteidiger über sein Anwaltspostfach mit, dass vor dem Termin die Akte nicht versandt werden könne; es komme nur Einsicht auf der Geschäftsstelle oder durch Anforderung einer Aktenkopie in Betracht. Daraufhin teilte der Verteidiger mit, dass die Akteneinsicht auf digitalem Wege erfolgen könne. Der zuständige Richter vermerkte daraufhin, dass die AKte nicht digital vorliege.

Die Entscheidung des Gerichts, den Hauptverhandlungstermin nicht auszugesetzen, wurde vom OLG Zweibrücken als Beschränkung der Verteidigung beanstandet. Zwar müsse sich der Verteidiger bei kurz vor der Hauptverhandlung begehrter Akteneinsicht auf Einschränkungen verweisen lassen, etwa auf die Übersendung von Kopien oder eine Einsicht in der Geschäftsstelle des Gerichts. Vorliegend wäre aber die Versendung einer Aktenkopie oder das Einscannen der Akte und deren anschließende elektronische Versendung an den Verteidiger in Betracht gekommen. Dies habe das AG bei seiner Ermessensausübung nicht ausreichend bedacht.

OLG Zweibrücken, Beschluss vom 10.07.2020 – 1 OWi 2 SsBs 51/20

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Landstuhl vom 16. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die selbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf dessen rechtzeitig erhobenen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidiums Rheinpfalz vom 15. August 2019 (Az.: 11.5002130.4) – ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 16. Januar 2020 – wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften mit einer Geldbuße von 1.080 EUR belegt und gegen ihn ein Fahrverbot von zwei Monaten angeordnet. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, die er auf die Sachrüge und eine Verfahrensbeanstandung stützt.

Der Einzelrichter des Senats hat die Sache durch Beschluss vom heutigen Tag gem. § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG an den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

I.

Die Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Der Betroffene beanstandet zu Recht, durch die fehlende Gewährung von Akteneinsicht vor der Hauptverhandlung und die Zurückweisung eines hierauf gestützten Aussetzungsantrages in einem wesentlichen Punkt in seiner Verteidigung unzulässig beschränkt worden zu sein (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO).

1.

Der Rüge liegt das folgende Verfahrensgeschehen zu Grunde:

Der Betroffene hat gegen den ihm am Samstag, den 24. August 2019 zugestellten Bußgeldbescheid am Montag, den 9. September 2019 Einspruch eingelegt. Mit Verfügung vom 17. Dezember 2019 hat der Bußgeldrichter Hauptverhandlungstermin auf den 16. Januar 2020 bestimmt; eine entsprechende Ladung ging dem Betroffenen am 20. Dezember 2019 zu. Am 9. Januar 2020 hat der Verteidiger des Betroffenen seine Mandatierung angezeigt, Akteneinsicht in den Kanzleiräumen beantragt und vorsorglich Verlegung des Hauptverhandlungstermins beantragt. Noch am 9. Januar 2020 fertigte der Bußgeldrichter folgende Verfügung:

„1. Akteneinsicht durch Übersendung der Akte kann vor dem Termin nicht mehr gewährt werden, nur Einsicht auf der Geschäftsstelle oder durch Anforderung einer Aktenkopie.

2. Terminsverlegung wird nicht stattfinden. Das Mandat wurde in Kenntnis des Termins angenommen.“

Die Verfügung ging dem Verteidiger über das besondere elektronische Anwaltspostfach gem. § 31a BRAO (beA) am Freitag, den 10. Januar 2020 zu. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020, der am selben Tag beim Amtsgericht einging, hat der Verteidiger sein Akteneinsichtsgesuch wiederholt und darauf hingewiesen, dass Akteneinsicht auch auf digitalem Wege, etwa über das beA, erfolgen könne. Zugleich beantragte der Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens und Neuterminierung nach Gewährung von Akteneinsicht. Nach Eingang des Schriftsatzes fertigte der Bußgeldrichter folgende Verfügung an:

„1. Die Akte liegt hier nicht digital vor.
2. n ZV
3. zT oE“

Diese Verfügung wurde dem Verteidiger nicht bekannt gegeben. Am 15. Januar 2020 hat der Verteidiger beantragt, den Betroffenen vom Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Im Hauptverhandlungstermin vom 16. Januar 2020, zu dem der Betroffene und der Verteidiger nicht erschienen waren, hat der Bußgeldrichter den Betroffenen entbunden und nach Durchführung einer Beweisaufnahme ein Sachurteil verkündet. Eine Entscheidung über den (erneuten) Aussetzungsantrag ist nicht protokolliert. In den schriftlichen Urteilsgründen hat der Bußgeldrichter ausgeführt:

„Dem Aussetzungsantrag des Betroffenen war ebenso wenig nachzugeben wie dem Terminsverlegungsantrag. Wer in Kenntnis des Termins ein Mandat kurzfristig annimmt, kann eine Verlegung nicht begehren. Der Betroffene hatte seit der Einlegung des Einspruchs am 7. September 2019 genug Zeit, um sich der Verteidigung durch einen Rechtsanwalt zu versichern.“

2.

Die Rüge ist in einer den Anforderungen der §§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO, 79 Abs. 3 OWiG entsprechenden Weise erhoben und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere hat der Verteidiger in der Rechtsbeschwerde dargelegt, welche konkreten Verfahrenshandlungen und Erklärungen er in der Hauptverhandlung im Falle zuvor gewährter Akteneinsicht angebracht hätte (zu den Rügeanforderungen: BGH, Beschluss vom 23.02.2010 – 4 StR 599/09, NStZ 2010, 530, 531). § 32f Abs. 3 StPO i.V.m. §§ 110c, 46 OWiG steht der Zulässigkeit der Rüge nicht entgegen. Das Absehen von der Bereitstellung einer elektronischen Aktenkopie kommt mit Blick auf den nahen Hauptverhandlungstermin einer Ablehnung der Akteneinsicht gleich.

3.

Die Rüge ist auch begründet.

Wird Akteneinsicht ganz oder in Teilen unzulässig versagt, liegt darin im Regelfall eine wesentliche Beschränkung der Verteidigung. Wird die Akteneinsicht nicht rechtzeitig vor Beginn der Hauptverhandlung gewährt und ein darauf bezogener Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag abgelehnt, liegt auch darin ein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 8 StPO (Lüderssen in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 147, Rn. 173; Thomas/Kämpfer in MünchKomm-StPO, 1. Aufl. 2014, § 147 Rn. 62). So liegt der Fall hier, weil die mit Schriftsätzen vom 9./13. Januar 2020 gestellten Akteneinsichtsanträgen nicht mit der hier gegebenen Begründung hätte abgelehnt werden dürfen.

a)

Das Recht auf Akteneinsicht für den Verteidiger ergibt sich im gerichtlichen Bußgeldverfahren aus § 147 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG (Haus/Kreusch in Haus/Kreusch/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 46 Rn. 7). Danach hat der Verteidiger vor der Hauptverhandlung ein Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte (Lüderssen aaO. § 147 Rn. 100). Der Verteidiger hat allerdings dann kein Recht auf Mitnahme bzw. Übersendung der (Original-)Akte in seine Kanzleiräume, wenn der Antrag erst während laufender Hauptverhandlung oder so kurz vor deren Beginn gestellt wird, dass diese dem Gericht zur Vorbereitung und Durchführung der Verhandlung voraussichtlich nicht zur Verfügung stehen. In diesem Fall muss sich der Verteidiger auf Einschränkungen der Akteneinsicht verweisen lassen, etwa auf die Übersendung von Kopien oder eine Einsicht in der Geschäftsstelle des Gerichts (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 30.10.1998 – 2 Ss (OWi) 566/98, juris Rn. 26; Lüderssen aaO. § 147 Rn. 100).

Für das gerichtliche Bußgeldverfahren verweist § 110c S. 1 OWiG hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung der Akteneinsicht auf § 32f StPO. § 32f Abs. 2 S. 2 StPO bestimmt, dass Akten, die in Papierform vorliegen, auch durch Bereitstellen des Inhalts der Akte zum Abruf oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden kann, wenn nicht wichtige Gründe dem entgegenstehen. Entgegen des ursprünglichen Gesetzesentwurfs (vgl. BR-Drs. 236/16, dort S. 57) stellt das Bereitstellen zum elektronischen Abruf für Akten, die noch in Papierform geführt werden, nicht den Regelfall dar. Die Entscheidung über die Art und Weise der Akteinsichtsgewährung steht – wie nach dem überkommenen Recht (vgl. § 147 Abs. 4 StPO a.F.) – weiterhin im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen der aktenführenden Stelle (BT-Drs. 18/12203, S. 73 f.).

b) Nach diesen Maßstäben begegnet zwar die Versagung der Übersendung der in Papierform geführten (Original-)Akte an den Verteidiger keinen rechtlichen Bedenken. Im Hinblick auf den für den 16. Januar 2020 bestimmten Hauptverhandlungstermin wäre ein rechtzeitiger Aktenrücklauf selbst bei Versendung der Akte noch am 9. Januar 2020 (Eingang des ersten Akteneinsichtsgesuchs) nicht gewährleistet gewesen.

Dahinstehen kann, ob der Vorsitzende dem Akteneinsichtsgesuch aber nicht unmittelbar durch Übersendung einer Aktenkopie („Zweitakte“) hätte nachkommen müssen, ohne dies – wie geschehen – von einer entsprechenden Anforderung durch den Verteidiger abhängig zu machen. Für die Annahme, dass der Verteidiger, etwa im Hinblick auf dadurch entstehende Auslagen, mit einer solchen Verfahrensweise nicht einverstanden gewesen wäre, ergeben sich keine Anhaltspunkte. Jedenfalls aber hätte der Vorsitzende im Rahmen seiner Ermessensentscheidung über die Form der Akteneinsichtsgewährung mit Blick auf die Bestimmung des § 32f Abs. 2 S. 2 StPO erwägen müssen, die in Papierform vorliegende Akte einscannen und auf elektronischem Wege, naheliegend im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs, zum Abruf durch den Verteidiger zur Verfügung stellen zu lassen. Dass der Vorsitzende diese Möglichkeit nicht erkennbar in den Blick genommen hat, war ermessensfehlerhaft. Wichtige Gründe, die der Bereitstellung einer Aktenkopie zum Abruf entgegenstanden haben, sind vom Vorsitzenden weder in seiner Verfügung niedergelegt, noch sind solche sonst ersichtlich. Die Feststellung, dass die Akte „hier nicht digital vorliegt“, stellt einen Grund für die Ablehnung einer elektronischen Übermittlung nicht dar. Das Einscannen einer Akte und die Fertigung einer elektronischen Kopie erfordert gegenüber dem Herstellen einer papierenen Kopie der Akte keinen höheren Aufwand. Dass dem Amtsgericht – unabhängig von seiner gesetzlichen Verpflichtung – eine Kommunikation im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs auch technisch möglich war, belegt bereits die auf diesem Wege erfolgte Übermittlung der Verfügung vom 9. Januar 2020.

II.

Der Senat hatte keinen Anlass, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an eine andere Abteilung oder ein anderes Amtsgericht zu verweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).