Der Betroffene wurde wegen eines Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt. Dem ging zunächst voraus, dass bei der Verwaltungsbehörde und später bei Gericht mehrfach die Einsicht in verschiedene Messunterlagen (Falldatensätze der gesamten Messreihe, Lebensakte, Wartungsnachweise zur Lichtzeichenanlage, Leitrechnerprotokoll bzw.Verkehrsrechnermitschrieb zur Tatzeit, Signallageplan sowie Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit mit Privatunternehmen ) beantragt wurde. Dies wurde von der Behörde, vom Gericht im Verfahren nach § 62 OWiG sowie vom erkennenden Gericht jeweils zurückgewiesen; eine gegen letztere Entscheidung eingelegte Beschwerde wurde vom LG Karlsruhe als unzulässig verworfen. In der Hauptverhandlung wurde erneut erfolglos die Einsicht und im Hinblick darauf die Aussetzung des Verfahrens beantragt.

Nach Zulassung der Rechtsbeschwerde hat das OLG Karlsruhe das Urteil aufgehoben: Zu Unrecht sei der Aussetzungsantrag zurückgewiesen und damit die Verteidigung unzulässig beschränkt (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO) worden. Der Betroffene habe auf Grund des Rechts auf ein faires Verfahren das Recht auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Ein Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert, existiere nicht., so dass der Betroffene einen Anspruch habe, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden. Datenschutzrechtliche Bedenken stünden dem jedenfalls bei Herausgabe an den Verteidiger oder einen von diesem beauftragten Privatsachverständigen nicht entgegen.

Eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG sei nicht veranlasst, da die Sachverhalte bei den Entscheidungen, welche das genannte Einsichtsrecht verneinen (OLG Bamberg, OLG Oldenburg), mit dem vorliegenden nicht vergleichbar seien. Es sei nicht erkennbar, dass in den genannten Fällen bereits vorgerichtlich die Einsichtnahme beantragt worden sei. Die Verteidigung sei aber jedenfalls dann unzulässig beschränkt, wenn schon bei der Verwaltungsbehörde unter Ausnutzung des Rechtsbehelfs des § 62 OWiG die Einsichtnahme erfolglos versucht worden ist und ein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann. Auf eine Klärung durch den BGH müssen wir also noch warten.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19

Verteidigerin: Monika Zimmer-Gratz, Winkelstraße 24, 66359 Bous, Gz.: 5825

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 17. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.

Gründe

I.

Die Stadt Karlsruhe setzte mit Bußgeldbescheid vom 10.07.2018 gegen den Betroffenen wegen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage bei länger als eine Sekunde andauernder Rotlichtphase ein Bußgeld in Höhe von 200.- Euro und ein Fahrverbot von einem Monat fest, da dieser am 02.06.2018 um 16:14 Uhr in Karlsruhe, B 10, Keßlerstraße, als Führer des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen XY das Rotlicht der dortigen Lichtzeichenanlage übersehen haben soll. Hiergegen legte die Verteidigerin nach erfolgter Zustellung am 13.07.2017 mit Telefax vom 13.07.2018, welches am 18.07.2019 beim Amtsgericht einging, Einspruch ein. Bereits zuvor hatte diese nach erhaltener Akteneinsicht mit Schriftsatz vom 03.07.2018 u.a. beantragt, ihr die Falldatensätze der gesamten Messreihe, Lebensakte, Wartungsnachweise zur Lichtzeichenanlage, Leitrechnerprotokoll (Verkehrsrechnermitschrieb) zur Tatzeit, Signallageplan sowie Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit der Stadt Karlsruhe mit Privatdienstleistern im Rahmen der Verkehrsüberwachung zur Verfügung zu stellen.

Diesen Antrag lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 04.07.2018 mit der Begründung ab, dass eine Übersendung der kompletten Messreihe sowie der Lebensakte nicht erfolgen könne, da beide nicht Aktenbestandteile seien. Bezüglich der Bedienungsanleitung solle sich die Verteidigerin direkt an den Hersteller Jenoptik Robot wenden, dessen Adresse mitgeteilt wurde.

Mit ausführlich begründetem Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 09.07.2018 beantragte der Betroffene gerichtliche Entscheidung dahingehend, dass die Verwaltungsbehörde anzuweisen sei, die am 03.07.2018 angeforderten Unterlagen zur Verfügung zu stellen bzw. Auskünfte zu erteilen, da die Verteidigung die Messung umfassend durch einen Sachverständigen überprüfen lassen wolle.

Am 27.07.2018 übersandte die Verwaltungsbehörde daraufhin verschiedene der im Schriftsatz vom 03.07.2018 angeforderten Unterlagen, teilte jedoch mit, dass insbesondere die Falldatensätze der gesamten Messreihe – da nicht Aktenbestandteil – nicht übermittelt würden.

Mit Schreiben vom 27.09.2018 teilte die Verteidigerin mit, dass sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach der Übersendung einiger Unterlagen durch die Verwaltungsbehörde insoweit erledigt habe, jedoch – nach Rücksprache mit dem Sachverständigen – nicht in Bezug auf das gewünschte Leitrechnerprotokoll (Verkehrsrechnermitschrieb) und die Einsicht in die gesamte Messreihe.

Mit Beschluss vom 01.10.2018 wies das Amtsgericht Karlsruhe den Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit der Begründung ab, dass sich ein Recht auf Übersendung weiterer Unterlagen oder Mitteilungen nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergebe.

Daraufhin leitete die Bußgeldbehörde am 09.10.2018 die Akten an die Staatsanwaltschaft weiter, welche in der Zuleitungsverfügung vom 16.06.2017 gegenüber dem Amtsgericht mitteilte, dass gegen die dort übliche Vorgehensweise „Keßlerstraße“ keine Bedenken bestünden. Mit Verfügung vom 19.10.2018 teilte das Amtsgericht der Verteidigerin mit, es sei beabsichtigt, ein Bußgeld von 200.- Euro zu verhängen, jedoch vom Fahrverbot abzusehen und fragte, ob der Betroffene mit einer Entscheidung im Beschlusswege einverstanden sei. Dieser widersprach mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 07.11.2018 einer Entscheidung im Beschlusswege und beantragte, das Verfahren im Hinblick auf die Rechtskraft des Bußgeldbescheids der Stadt Karlsruhe vom 13.08.2018 (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 8 km/h am 02.06.2018 um 16:16 Uhr in der Kriegsstraße Höhe Hausnummer 165) wegen Doppelverfolgung einzustellen. Außerdem beantragte er erneut die Überlassung der von der Verwaltungsbehörde verweigerten Unterlagen. Zur Begründung führte er aus, der Tatvorwurf habe vom beauftragten Privatsachverständigen noch nicht ausreichend überprüft werden können.

Am 14.11.2019 bestimmte das Amtsgericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 17.12.2019 und teilte der Verteidigerin mit, dass die von ihr begehrten (Mess-) Unterlagen nicht übersendet bzw. angefordert würden. Hiergegen legte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 22.11.2018 Beschwerde ein und beantragte erneut (u.a.) die Herausgabe der mit Schreiben vom 27.09.2018 erbetenen Unterlagen.

Nachdem das Amtsgericht dieser Beschwerde am 23.11.2018 nicht abhalf, verwarf das Landgericht Karlsruhe diese mit Beschluss vom 12.12.2018 als unzulässig gem. § 305 Satz 1 StPO.

Das Amtsgericht entband den Betroffenen auf seinen Antrag mit Beschluss vom 17.12.2018 vom persönlichen Erscheinen. In der Hauptverhandlung am 17.12.2018 stellte der in Untervollmacht anwesende Verteidiger neben verschiedenen Beweisanträgen (die alle zurückgewiesen wurden) Einsichtsantrag u.a. in die o.g. (Mess-) Unterlagen. Ferner wurde beantragt, das Verfahren auszusetzen, bis die Verteidigung die beantragten Unterlagen erhalten und diese durch einen Sachverständigen habe prüfen können.

Diesen Antrag wies das Amtsgericht mit folgendem Beschluss zurück:

„Der Antrag auf Aussetzung, um Einsicht in weiter Unterlagen zu nehmen, wird abgelehnt, da diese Unterlagen dem Gericht nicht zur Verfügung stehen.“

Mit Urteil vom 17.12.2018 verurteilte das Amtsgericht den Betroffenen wegen fahrlässigen Rotlichtverstoßes zu der Geldbuße von 200,00 €.

Mit dem frist- und formgerecht gestellten und begründeten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene eine Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie eine Verletzung der Aufklärungspflicht geltend. Außerdem rügt er einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren, welchen er mit der Ablehnung von Beweisanträgen, der Nichtzurverfügungstellung der nicht bei den Akten befindlichen Messunterlagen bzw. der Nichtaussetzung des Verfahrens zur Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen Messunterlagen begründet. Insoweit beantragt er die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts. Zudem sei die Rechtbeschwerde im Hinblick auf das vom Amtsgericht verneinte Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen und in sachlich-rechtlicher Hinsicht die Frage zu klären, welche Feststellungen ein Gericht im Falle eines Rotlichtverstoßes zu treffen habe bzw. wann ein solcher vorliege.

Die Generalstaatsanwaltschaft XY hat am 16.04.2019 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Hierzu hat die Verteidigung am 16.05.2019 eine Gegenerklärung abgegeben, in der sie an ihrem Antrag festhält.

Die originär zuständige Einzelrichterin hat die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen und die Sache mit Beschluss vom 02.07.2019 auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 1 und 3 OWiG).

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat – zumindest vorläufig – Erfolg.

Soweit der Betroffene einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot geltend macht, verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 16.04.2019.

Das angefochtene Urteil unterliegt der Aufhebung, weil es auf verfahrensfehlerhafter Grundlage ergangen ist, was der Betroffene formgerecht gerügt hat. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.

1.

Das Amtsgericht hat nämlich zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung zur Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen – von ihm schon frühzeitig vor der Hauptverhandlung gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht begehrten – amtlichen Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss in der Hauptverhandlung zurückgewiesen und damit die Verteidigung unzulässig gem. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt, wobei der Senat nicht ausschließen kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann (KK-StPO/Gericke, 8. Aufl. 2019, StPO § 338 Rn. 101 mwN).

a.

Die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung ist zulässig erhoben, insbesondere bedurfte es, da das Amtsgericht – wie gemäß § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO geboten – den gestellten Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen hat, nicht des Zwischenrechtsbehelfs des § 238 Abs. 2 StPO. Dieser ist nur dann zwingend (zur Erhaltung der Verfahrensrüge) erforderlich, wenn der Antrag auf Aussetzung durch den Amtsrichter lediglich verhandlungsleitend abgelehnt wird (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 24.02.2016 – Ss (Bs) 6/2016 -, juris; Cierniak, zfs 2012, 664; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, und DAR 2018, 541; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 338 Rn. 60).

Dies beruht darauf, dass gegen die Zurückweisung eines Aussetzungsantrags durch Beschluss in der Hauptverhandlung eine Beschwerde unzulässig (§ 305 Satz 1 StPO) ist. Vielmehr ist allein die Revision eröffnet. Hat das Gericht keine Norm verletzt, die die Aussetzung zwingend vorschreibt (z.B. § 217 Abs. 2 StPO), kann der Angeklagte oder Betroffene nur geltend machen, durch das Unterlassen der Aussetzung in seiner Verteidigung unzulässig beschränkt worden zu sein (§ 338 Nr. 8 StPO). Dies ist der Fall, wenn das Gericht das ihm durch eine Verfahrensnorm ausdrücklich eingeräumte bzw. im Rahmen der Verhandlungsführung allgemein eingeräumte Ermessen, die Hauptverhandlung auszusetzen, rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, namentlich weil dem Gebot fairer Verfahrensführung bzw. der dem Angeklagten bzw. Betroffenen gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht nicht angemessen Rechnung getragen wurde. Lässt eine bloß formelhafte Begründung des Beschlusses die Überprüfung der Ermessensentscheidung auf Rechtsfehler nicht zu, kann dies die Revision ebenfalls begründen, zumindest dann, wenn ersichtlich besondere Umstände von Gewicht zu berücksichtigen gewesen wären (Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, § 228, Rn. 43).

b.

Vorliegend wurde die Verteidigung durch den Beschluss, mit dem der Aussetzungsantrages formelhaft zurückgewiesen wurde, rechtfehlerhaft beschränkt, da der Betroffene ein Recht auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen hat, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt.

Ein solcher Anspruch ergibt sich – auch beim standardisierten Messverfahren – aus dem Gebot des fairen Verfahrens. Dieses folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art 20 Abs. 3 GG) i. V. m. dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG NJW 1984, 2403) sowie aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (vgl. Fischer, KK-StPO, 8. Aufl. 2019, Einl. Rn. 111 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Einl. Rn. 19; § 338 Rn. 59, jeweils mwN). Aus dem Gebot ergibt sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG NJW 1969, 1423, 1424; NJW 1984, 2403). Das Recht auf ein faires Verfahren enthält indessen keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es zu konkretisieren, ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes selbst angelegten Gegenläufigkeiten eindeutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit selbst konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Verfahrens gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250, 275 f.; BVerfGE 63, 45, 61; OLG Düsseldorf NZV 2016, 140; Fischer, aaO, mwN).

Aus dem Gebot des fairen Verfahrens kann sich nach herrschender Auffassung auch ein Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a. ergeben, welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgeht (BVerfGE 63, 45 [67] = NStZ 1983, 273, mit Anmerkung Peters; Fischer, aaO, insbes. Rn. 116; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, insbes. § 147 Rn. 18, 19 und 19c). Nach Art. 6 Abs. 3a MRK hat jede angeklagte Person mindestens das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dabei wendet sich das Gebot einer rechtsstaatlichen, insbesondere auch fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Straf- oder Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Die Zurückhaltung von Beweismitteln kann für die Verteidigung trotz formaler Wahrung aller prozessualen Rechte zu erheblichen Nachteilen führen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.1981 – 2 BvR 215/81 = NJW 1981, 1719, zur Unbedenklichkeit des „Zeugen vom Hörensagen“).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat eine derartige Auswirkung des Verhaltens der Exekutive auf das Strafverfahren nur Bestand, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen übereinstimmenden Weise gehandhabt und der eigenen Beurteilung durch das Gericht nicht weiter entzogen werden, als dies zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich ist (BVerfG, aaO).

Bezogen auf das Bußgeldverfahren wird auf dieser Grundlage die – vom Senat geteilte – überwiegende Ansicht vertreten, dass ein Betroffener danach, insbesondere auch wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“, gegenüber der Verwaltungsbehörde verlangen kann, dass er Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen kann, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind.

Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weitreichenden Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (so schon BGHSt 39, 291 = NStZ 1993, 592) und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, wobei der Anspruch des Betroffenen auf Herausgabe der nicht bei den Akten befindlichen, jedoch existierenden amtlichen Messunterlagen zur umfassenden Überprüfung der Messung – neben dem Gebot des fairen Verfahrens – teilweise auch aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs abgeleitet wird (vgl. insbesondere OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 = ZfSch 2018, 471, Beschluss vom 03.04.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19 -, juris, und Beschluss vom 08.05.2019 – 2 Rb 7 Ss 202/19 -, juris, jeweils mwN; KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472, mwN; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 24.02.2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi) = Verkehrsrecht aktuell 2016, 103; OLG Celle, Beschluss vom 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16 -, juris = StRR 2016, Nr. 8, 18; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.3.2017– 2 Ss [OWi] 40/17 = NZV 2017, 392; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8.9.2016 – 53 Ss-OWi 343/16 = StraFo 2017, 31; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1.3.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15= NStZ-RR 2016, 186; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015 – 2 Rbs 63/15 = NZV 2016, 140; Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 27.04.2018 – Lv 1/18 = DAR 2018, 557, vgl. dazu Entscheidungsbesprechung von Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, mwN; Krenberger, NZV 2018, 282, und ZfSch 2018, 472; Wendt, NZV 2018, 441; Deutscher, DAR 2017, 723). Weit überwiegend bejaht wird der Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen auch in den veröffentlichen Entscheidungen im Vorverfahren gem. § 62 OWiG (vgl. LG Ellwangen, DAR 2011, 418; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 24.08.2012 – 6 Qs 593 Js 3917/12 -, juris; LG Neubrandenburg, Beschluss vom 30.09.2015 – 82 Qs 112/15 -, juris; LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017 – 1 Qs 46/17 -, juris; LG Baden-Baden, Beschluss vom 14.09.2018 – 2 Qs 104/18 -, juris, das zudem darauf hinweist, dass dem Schutzinteresse der von einer Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer durch Anonymisierung ihrer Daten Rechnung getragen werden kann; AG Kassel, Beschluss vom 23.12.2015 – 381 OWi 315/15 -, juris; AG Völklingen, Beschluss vom 13.07.2016 – 6 Gs 49/16 -, juris, das zutreffend darauf hinweist, dass bei einer Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Messunterlagen und Messdaten an den Verteidiger und einen vom Verteidiger beauftragten Sachverständigen datenschutzrechtliche Bedenken nicht entgegenstehen [vgl. dazu auch BGHSt 52, 58 = NStZ 2008, 104]; AG Neunkirchen, Beschluss vom 05.09.2016 – 19 OWi 531/15 -, juris; AG Hannover, Beschluss vom 28.11.2017 – 214 OWi 298/17 -, juris; AG Bitburg, Beschluss vom 27.06.2018 – 3 OWi 66/18; vgl. auch die inzwischen herrschende Meinung in der Literatur: Grube in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, OWiG – Bezüge zum Straßenverkehrsrecht Rn. 64; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 3 StVO Rn. 58; Leitmeier, NJW 2016, 1457; Reisert, ZfS 2017, 244; Cierniak, ZfS 2012, 664; Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 526; und Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 451, die zusammenfassend pointiert darauf hinweisen: „Der Betroffene ist im Rechtsstaat nicht gezwungen, die Ergebnisse der Verwendung standardisierter Messverfahren hinzunehmen („black box“), ohne die Gelegenheit dazu zu haben, die Grundlagen dieser Messung zu kennen und ggf. überprüfen zu lassen… Ob der damit für den Betroffenen (oder dessen Rechtschutzversicherung) verbundene Kostenaufwand als „sinnvoll“ erscheint, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht den Gerichten obliegt“).

Soweit das Oberlandesgericht Bamberg einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Verstoß gegen das rechtliche Gehör bezogen auf die Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrags auf Beiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen verneint, sind die Sachverhalte nicht vergleichbar, da sich aus diesen Entscheidungen nicht ergibt, dass schon vor der Hauptverhandlung gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht Anträge auf Aushändigung bzw. Einsicht gestellt und negativ beschieden wurden (OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NStZ 2018, 724; und Beschluss vom 04.10.2017 – 3 Ss 1232/17 = NZV 2018, 80, jeweils mwN; ebenfalls dieser Auffassung OLG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 = VRR 2018, Nr. 9, 18-19; AG München, Beschluss vom 16.08.2018 – 953 OWi 155/18 -, juris).

Nach Ansicht des Senats wird die Verteidigung jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht gemäß § 62 OWiG Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt hat und sein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann.

Dies ist vorliegend – im Hinblick auf die im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 27.09.2018 begehrten Unterlagen (gesamte Messreihe und Leitrechnerprotokoll/Verkehrsrechnermitschrieb der Rotlichtüberwachungsanlage) – schon deshalb anzunehmen, weil es keinen Erfahrungssatz gibt, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert (KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472 mwN; vgl. schon BGHSt 28, 235, wonach kein Erfahrungssatz besteht, dass die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern und der Hinweis, dass die Gerichte vor möglichen Gerätemängeln, Bedienungsfehlern und systemimmanenten Messungenauigkeiten – auch bei Messergebnissen, die mit anerkannten Geräten in einem weithin standardisierten und tagtäglich praktizierten Verfahren gewonnen wurden – nicht die Augen verschließen dürfen).

2.

Eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gem. §§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG war nicht veranlasst, da der Senat – soweit ersichtlich – in Bezug auf die Rechtsfrage nicht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs abweicht.

Der Bundesgerichtshof hat in Bezug auf das Akteneinsichtsrecht im Bußgeldverfahren ausgeführt, dass eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts mit dem im Bußgeldverfahren gleichermaßen geltenden (§ 71 Abs. 1 OWiG) strafprozessualen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Danach sei es grundsätzlich ausgeschlossen, dass Aktenbestandteile, die der Verfolgungsbehörde oder dem Gericht bekannt sind, der Verteidigung vorenthalten werden (BGHSt 52, 58). Für das Strafverfahren hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass es dem Verteidiger unbenommen ist, auf die Bekanntgabe von Einzelwerten (der Blutalkoholkonzentration) zu bestehen (BGHSt 28, 235). Damit wird fraglos eine Verpflichtung der Verfolgungsbehörde auf Herausgabe bzw. Gestattung der Einsicht in nicht bei den Akten befindliche, existierende Einzelmesswerte für den Fall anerkannt, um dem Angeklagten bzw. Betroffenen aus nachvollziehbaren Gründen eine (ggf. privatsachverständige) Überprüfung eines Messergebnisses zu ermöglichen.

Eine mit zulässiger Verfahrensrüge vorgetragene Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung gem. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO durch Zurückweisung des Aussetzungs- und Einsichtsantrages in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen in der Hauptverhandlung nach vorangegangener Verweigerung der Einsichtnahme durch die Verwaltungsbehörde (trotz mehrfacher Gesuche) und im Anschluss erfolgter Zurückweisung des entsprechenden Antrags auf gerichtliche Entscheidung durch das Amtsgericht vor der Hauptverhandlung war – soweit ersichtlich – auch noch nicht Gegenstand ober- oder höchstrichterlicher Entscheidungen.

Hingegen hat das Oberlandesgericht Karlsruhe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass es Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) ist, dass dem Betroffenen auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, zur Verfügung zu stellen sind. Kommt das Gericht dem trotz eines rechtzeitig gestellten Antrags nicht nach, rechtfertigt dies den Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 – = ZfSch 2018, 471, Beschluss vom 03.04.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19 -, juris, und Beschluss vom 08.05.2019 – 2 Rb 7 Ss 202/19 -, juris, jeweils mwN). Von einem solchen Anspruch gehen – soweit ersichtlich – auch mehrere Oberlandesgerichte und die überwiegende Zahl der veröffentlichten Entscheidungen der Land- und Amtsgerichte sowie die herrschende Kommentierung aus (vgl. Zitate oben).

Soweit zum Bestehen des zutreffend auf der Grundlage des fairen Verfahrens abgeleiteten Anspruchs auf Einsicht in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen eine andere Ansicht vertreten wird – insbesondere durch das Oberlandesgericht Bamberg in ständiger Rechtsprechung, der sich das Oberlandesgericht Oldenburg angeschlossen hat – beziehen sich diese Entscheidungen – soweit erkennbar – allein auf den in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) gerügt werden könne, und verhalten sich nicht explizit zum vorliegenden Fall eines in der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrages nach zuvor anhaltender Verweigerung der Herausgabe von vorhandenen Messunterlagen durch die Verwaltungsbehörde und das Gericht (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NStZ 2018, 724; Beschluss vom 04.10.2017 – 3 Ss 1232/17 = NZV 2018, 80, und vom 04.04.2016 – 3 SS OWi 1444/15 -, juris -, wobei auch in der Entscheidung des OLG Bamberg vom 04.10.2017 abschließend ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es aus Gründen der Verfahrenseffizienz „ratsam“ sei, bestimmte Unterlagen außerhalb der Akte vor der Hauptverhandlung beizuziehen; OLG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18) = VRR 2018, Nr 9, 18; vgl. dazu Anmerkung Krenberger, jurisPR-VerkR 20/2018 Anm. 5).

3.

Die Sicherung des in allen Abschnitten des Bußgeldverfahrens zu beachtenden Fairnessgebots obliegt nicht nur bzw. erst Staatsanwaltschaft und Gericht, sondern zunächst der Bußgeldbehörde, die gehalten ist, dem Betroffenen (bzw. dem Verteidiger oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen) die zur Überprüfung des Messergebnisses notwendigen Unterlagen frühzeitig zur Verfügung zu stellen.

Vielen Dank an Frau Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Bous, für die Zusendung dieser Entscheidung.