Völlig konträr zu dem gestern vom Kollegen Burhoff vorgestellten Beschluss des OLG Bamberg, welcher die Rechtsprechung des VerfGH des Saarlandes zur Akteneinsicht im OWi-Verfahren “auseinandernimmt”, äußerte sich das Kammergericht in einer erst jetzt – und gerade rechtzeitig – veröffentlichten Entscheidung von Ende April. Es betont nämlich ein Einsichtsrecht des Verteidigers in Messdaten außerhalb der Akten (es ging vermutlich um die Messreihe), wenn mit diesen das standardisierte Messverfahren überprüft werden kann, da er dies für die Formulierung von Beweisanträgen tun müsse. Wie schon der BGH führt das KG aus, es existiere kein Erfahrungssatz, dass solche Messungen stets zu zuverlässigen Ergebnissen führen und ein Betroffener habe einen Anspruch darauf, nur auf Grund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden.

Dieses Recht folge allerdings allein aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), nicht dem auf rechtliches Gehör, so dass der Zulassungsgrund des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht greife; leider lag bei Ergehen dieser Entscheidung der – dies anders sehende – Beschluss des VerfGH des Saarlandes noch nicht vor, so dass das KG auf dessen Argumentation nicht eingehen konnte. Ohnehin bestanden beim KG “erhebliche Bedenken” an der Zulässigkeit der erhobenen Rüge – daher kam auch eine Vorlage an den BGH nicht in Betracht -, was aber nichts daran änderte, dass das KG sich zu seiner klarstellenden Anmerkung zu den Betroffenenrechten veranlasst sah.

KG, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18

Der Antrag der Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 8. Februar 2018 wird, ohne dass der Beschluss einer Begründung bedürfte (§ 80 Abs. 4 Satz 3 OWiG), verworfen.

Klarstellend merkt der Senat an:

Ob dem von der Betroffenen beauftragten Sachverständigen Einsicht in „sämtliche Falldateien des Messtags“ zu gewähren gewesen wäre oder ob diesem Begehren datenschutzrechtliche oder andere Umstände entgegengestanden hätten, muss dahinstehen.

Allerdings erkennt der Senat an, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. BGHSt 39, 291; 28, 239; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2). Denn die Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Cierniak/Niehaus, aaO). Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (vgl. Senat DAR 2013, 211 [Bedienungsanleitung]). Solch weitreichende Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert, und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (vgl. BGHSt 39, 291; Cierniak, zfs 2012, 664).

Das daraus folgende Recht auf einen „Gleichstand des Wissens“ und auf Zugang zu den jedenfalls den Betroffenen betreffenden Messdaten ist jedoch nicht Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte (vgl. BVerfG 6, 12). Zwar umfasst das Recht auf effektive Stellungnahme auch das Recht auf Informationen über den Inhalt und den Stand des gerichtlichen Verfahrens und damit auf Akteneinsicht (vgl. Senat DAR 2013, 211). Einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG jedoch nicht (vgl. Senat DAR 2017, 593; Cierniak, zfs 2012, 664 und ausführlich Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, ist vielmehr Ausfluss der Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. Cierniak/Niehaus, aaO).

Unbeschadet erheblicher Bedenken gegen die Zulässigkeit der hier erhobenen Verfahrensrüge kann mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nur die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden. Eine solche liegt nach dem Ausgeführten nicht vor. Andere Verfahrensgrundsätze, so auch jener des fairen Verfahrens, sind der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht gleichgestellt.

Bei der hier verhängten Geldbuße von 90 Euro kommt auch eine Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht in Betracht (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG).

Die Betroffene hat die Kosten ihrer nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).