Die in dieser Woche vorgestellte Entscheidung zur Einsicht in Messdaten stammt vom AG Zossen: Auch dieses lässt der Verteidigung die gesamte Messreihe inklusive Rohmessdaten zur Verfügung stellen, um der Verteidigung zu ermöglichen, Fehler aufzufinden und durch deren Vortrag die Annahme eines standardisierten Messverfahrens zu widerlegen. Das Einsichtsrecht nimmt das AG auch für die Bedienungsanleitung oder die Lebensakte des Messgeräts an, auf welche der Einsichtsantrag hier aber nicht gerichtet war. Datenschutzbedenken seien nicht zu sehen. Es sei davon auszugehen, dass auf entsprechende Anforderung die Messreihe auch dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt würde. Weshalb dies für die Verteidigung nicht gelten solle, erschließe sich nicht.

Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, insbesondere des OLG Bamberg oder OLG Braunschweig, stünde diesem Ergebnis nicht entgegen. Diese Gerichte gingen davon aus, dass Messdaten nicht herauszugeben seien, da Gerichte Betroffene im Falle eines standardisierten Messverfahrens auch ohne Auswertung der Messdaten verurteilen könnten, so dass die Annahme eines Einsichtsrechtes impliziere, dass derartige Urteile falsch seien. Damit erscheine diese Argumentation zirkelschlüssig.

AG Zossen, Beschluss vom 31. Januar 2018 – 11 OWi 16/18

1. Dem Verteidiger ist Einsicht zu gewähren in die gesamte Meßreihe und alle Rohdaten vom Meßeinsatz/Meßtag.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG ist zulässig und begründet.

Die Vorenthaltung der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung verwendeter Meßgeräte, Lebensakte etc. verletzt den aus Art. 6 EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens und beeinträchtigt das Recht auf eine effektive Verteidigung.

Dem Verteidiger ist die vollständige Meßdatei, soweit erforderlich samt Token und Paßwort, sowie die gesamte Meßreihe entsprechend § 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO zur Verfügung zu stellen. Andernfalls würde das Recht auf rechtliches Gehör verletzt werden. Denn bei der vorliegenden Messung handelt es sich um ein standardisiertes Meßverfahren, so daß der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorzubringen hat. Hierzu ist er nur in der Lage, soweit eine Auswertung der Messung (ggf. durch einen von ihm beauftragten Sachverständigen) erfolgen kann. Hierfür muß ihm die gesamte Meßreihe vorliegen.

Datenschutzrechtliche Gründe sprechen nicht gegen die Aushändigung der gesamten Meßreihe sowie der Meßdatei an den Verteidiger. Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen überwiegt das Interesse des Betroffenen, das Recht auf rechtliches Gehör ausüben zu können. Dies ist nur gewährleistet, soweit das Akteneinsichtsrecht auch auf diese genannten Beweismittel, die nicht unmittelbarer Aktenbestandteil sind, erstreckt wird. Darüber hinaus dürften der Verwaltungsbehörde technische Mittel zur Anonymisierung der Daten auf der Meßdatei zur Verfügung stehen. Weiter ist hier zu berücksichtigen, daß nicht dem Betroffenen, sondern dem Verteidiger im Rahmen des Akteneinsichtsrechts die Daten zur Verfügung gestellt werden, der als Person der Rechtspflege dem Datenschutz verpflichtet ist (AG Gießen, Beschluß vom 01. März 2016 – 510 OWi 5/16 -, juris). Es ist bislang nicht gerichtsbekannt geworden, daß jemals Bedenken aufgeworfen worden seien, der Staatsanwaltschaft vergleichbare Daten zur Verfügung zu stellen. Das Gericht geht auch davon aus, daß es selbst auf Anforderung die entsprechenden Unterlagen auch zur Verfügung gestellt bekäme. Weshalb diese zwar der Staatsanwaltschaft und dem Gericht, nicht aber der Verteidigung zur Verfügung stehen sollen, erschließt sich nicht.

Dem steht auch nicht die Entscheidung Oberlandesgerichts Bamberg (Beschluß vom 04. April 2016 – 3 Ss OWi 1444/15 -, juris; zustimmend OLG Braunschweig, Beschluß vom 14. Juni 2017 – 1 Ss (OWi) 115/17 -, juris) entgegen. Dieses meint, da der Tatrichter in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei standardisierten Meßverfahren ohne weitergehende Beweisaufnahme, insbesondere durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, von der Richtigkeit des ermittelten Meßwerts ausgehen und nicht nur auf das Gegenteil gerichtete Beweisanträge auf sachverständige Überprüfung der Messung nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ablehnen, sondern sogar ein verurteilendes Erkenntnis aussprechen dürfe, sei andererseits auszuschließen, daß die Überprüfung der Meßdateien durch einen Sachverständigen zu einem abweichenden Ergebnis geführt hätte. Würde man dies anders sehen, käme man zu einem dem Rechtsstaatsprinzip grob zuwiderlaufenden Resultat: Es liefe letztlich auf die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen hinaus. Daß dies nicht angehe, verstehe sich von selbst. Unter Zugrundelegung dieser Ausgangssituation könne die höchstrichterliche Rechtsprechung nur dahingehend interpretiert werden, daß im Falle eines standardisierten Meßverfahrens keine vernünftigen Zweifel mehr an dem Geschwindigkeitsverstoß gegeben seien, wenn und soweit das amtlich zugelassene Meßgerät, das im Tatzeitpunkt geeicht gewesen sei, unter Beachtung der Bedienungsanleitung des Zulassungsinhabers durch einen geschulten Meßbeamten verwendet worden sei, sich auch sonst keine von außen ergebenden Hinweise auf etwaige Messfehler gezeigt hätten und der Tatrichter die vorgeschriebenen Messtoleranzen berücksichtigt habe. Dies habe aber die weitere Konsequenz, daß auch eine Überprüfung der Meßdateien zu keinem abweichenden Resultat führen könne (OLG Bamberg, Beschluß vom 04. April 2016 – 3 Ss OWi 1444/15 -, juris).

Dem vermag das erkennende Gericht nicht zu folgen. Die Begründung des Oberlandesgerichts Bamberg erscheint zirkelschlüssig. Kurz gefaßt, lautet sie: Da regelmäßig und in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung ohne Überprüfung der Meßdateien verurteilt werde, stehe fest, daß es der Meßdateien nicht bedürfe, da sonst die Urteile falsch wären und ein Unschuldiger rechtstaatswidrig verurteilt worden wäre. Mit anderen Worten: „Da so verurteilt werde, sei es auch richtig“ oder aber: „Die obergerichtliche Rechtsprechung sei richtig, da sie sonst falsch wäre“.

Im übrigen muß es auch bei einem standardisierten Meßverfahren der Verteidigung ermöglicht werden, Fehler im Meßverfahren zu ermitteln und vorzutragen. Denn solange keine konkreten Einwände gegen die Messung und das Meßergebnis erhoben werden, besteht für das Gericht kein Anlaß, den Meßvorgang sachverständig überprüfen zu lassen (OLG Braunschweig, Beschluß vom 14. Juni 2017 – 1 Ss (OWi) 115/17 -, juris). Wenn aber der Verteidigung obliegt, konkrete Einwände gegen die Messung und das Meßergebnis zu erheben, muß ihr auch eine umfassende Überprüfung der Messung ermöglicht werden. Wie umfassend diese Überprüfung seitens der Verteidigung erfolgt, ist jedoch nicht durch das Gericht und die Bußgeldbehörde, sondern durch die Verteidigung selbst zu entscheiden.

Die Entscheidung ist unanfechtbar.

Vielen Dank an Herrn Dipl.-Ing. Roland Bladt, Hohenahr, für die Übersendung dieser Entscheidung.