Zu der Problematik, ob im Bußgeldverfahren einem Betroffenen oder seinem Verteidiger Einsicht in die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts zu gewähren ist, ist es in letzter Zeit ruhig geworden, nachdem die meisten Entscheidungen zu Einsichtsfragen nur noch Messdaten oder Lebensakten/Wartungsnachweise betreffen. Im vorliegenden Fall allerdings wurde der Verteidigerin trotz Antrags die Bedienungsanleitung nicht überlassen. Das OLG Karlsruhe schließt sich dem OLG Naumburg und dem Kammergericht an und meint: Nach dem fair-trial-Grundsatz seien dem Betroffenen auch nicht bei den Akten befindliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen, wenn sie für die Prüfung des Tatvorwurfes benötigt werden, was bei der Bedienungsanleitung der Fall sei. Daher könne eine Aussetzung der Hauptverhandlung verlangt werden; bei Nichtberücksichtigung eines solchen Antrags sei das rechtliche Gehör verletzt.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 25.09.2017 wird zugelassen.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 25.09.2017 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Freiburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe setzte mit Bußgeldbescheid vom 13.02.2017 gegen den Betroffenen wegen Abstandsunterschreitung im Straßenverkehr ein Bußgeld in Höhe von 180 € fest.

Auf den fristgerecht eingelegten Einspruch des Betroffenen hin beraumte das Amtsgericht zunächst Termin für die Hauptverhandlung auf den 25.07.2017 an. Mit Beschluss vom 10.07.2017 wurde der Betroffene auf seinen über seine Verteidigerin gestellten Antrag hin von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen „zum Termin am 25.07.2017“ entbunden. Danach wurde der Termin zwei Mal, zuletzt auf den 25.09.2017, 10:00 Uhr, verlegt. In einem am 22.09.2017 eingereichten Schriftsatz äußerte die Verteidigerin die Auffassung, dass die Entbindung von der Verpflichtung des Betroffenen zum persönlichen Erscheinen auch für den neu anberaumten Termin gelte, und bat anderenfalls um erneute Beschlussfassung. Mit weiterem am 25.09.2017 um 07:20 Uhr beim Amtsgericht eingekommenem Schriftsatz beantragte die Verteidigerin, die zuvor mit Schriftsätzen vom 07.07.2017 und vom 22.09.2017 beantragt hatte, ihr Einsicht in die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgerätes zu gewähren, die Aussetzung der Hauptverhandlung im Hinblick auf die bis dahin noch nicht gewährte Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung.

Mit Beschluss vom 25.09.2017 verwarf das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG, nachdem zum Termin weder der Betroffene noch seine Verteidigerin erschienen waren.

Mit dem frist- und formgerecht eingelegten und begründeten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wird eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, die bereits darin gesehen wird, dass die Voraussetzungen für eine Verwerfung des Einspruchs nicht vorlagen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vertritt in ihrer Antragsschrift vom 27.12.2017 die Auffassung, dass die zur Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erforderliche Verfahrensrüge nicht ordnungsgemäß ausgeführt ist, und beantragt deshalb, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist zuzulassen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG).

1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfGE 22, 267, 274; BGH NStZ-RR 2003, 49; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn. 67, 94 ff.). Im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist eine Verletzung dieses Anspruchs mit der Verfahrensrüge geltend zu machen (st. Rspr. des Senats, zuletzt etwa Beschluss vom 05.07.2017 – 2 Rb 10 Ss 407/17; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 16a m.w.N.). Der dazu erforderliche Tatsachenvortrag (§§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) muss das Rechtsbeschwerdegericht in die Lage versetzen, das Vorliegen des behaupteten Rechtsverstoßes ohne Rückgriff auf andere Unterlagen zu prüfen (st. Rspr. des BGH, zuletzt Beschluss vom 04.10.2017 – 3 StR 145/17, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 344 Rn. 21 m.w.N.). Bei der Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist deshalb auch Vortrag zu der Entscheidungserheblichkeit des vom Gericht übergangenen Vortrags erforderlich. Es muss deshalb grundsätzlich dargelegt werden, welcher Sachvortrag gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG in die Hauptverhandlung einzuführen gewesen wäre und infolge der Verwerfung des Einspruchs unberücksichtigt geblieben ist (OLG Düsseldorf VRS 120, 343; OLG Brandenburg VRS 127, 38; a.A. OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 383). Beruft sich der Betroffene darauf, dass ihm aufgrund verwehrter Einsichtnahme in bestimmte Unterlagen – hier die Bedienungsanleitung des Messgeräts – entsprechender Vortrag nicht möglich ist, muss er sich, damit die Ausnahme von der an sich nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bestehenden Vortragsfrist gerechtfertigt und belegt wird, nach der in der obergerichtlichen Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung (OLG Celle VRS 124, 333; NStZ 2014, 526; Beschluss vom 21.04.2016 – 2 Ss (OWi) 82/16 , juris; OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 354; OLG Hamm, Beschluss vom 14.11.2012 – III-1 RBs 105/12, juris; a.A. OLG Jena NJW 2016, 1457) jedenfalls bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Unterlagen bemühen und die entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Rechtsbeschwerdegericht auch dartun.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann allerdings auch dadurch verletzt werden, dass das Gericht prozessual erhebliches Vorbringen übergeht, bei dessen Berücksichtigung die getroffene Entscheidung nicht hätte ergehen dürfen (OLG Dresden NZV 2013, 613 – Nichtbescheidung eines Antrags auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen; KG NStZ 2011, 584; OLG Brandenburg NZV 2003, 432; OLG Köln VRS 96, 451 – jeweils zur Nichtberücksichtigung von Entschuldigungsvorbringen). Da es in diesen Fällen für die Entscheidung nicht auf den Tatvorwurf ankommt, ist Vortrag dazu nicht erforderlich (zum Ganzen Seitz/Bauer a.aO., § 80 Rn. 16c; KK-Hadamitzky, OWiG, 5. Aufl., § 80 Rn. 41e).

2. Nach diesen Maßstäben ist die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorliegend dargetan.

In diesem Zusammenhang bedarf es keiner abschließenden Entscheidung der in der obergerichtlichen Entscheidung umstrittenen Frage, ob die Befreiung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen auch nach Verlegung des Hauptverhandlungstermins fortgilt (bejahend OLG Karlsruhe – Senat – NStZ-RR 2015, 258; OLG Bamberg NStZ-RR 2017, 25; verneinend OLG Jena VRS 117, 342; KG VRS 99, 372), weil dies auf die Entscheidung keinen Einfluss hat.

a) Auf der Grundlage der verneinenden Auffassung liegt das Übergehen erheblichen Vorbringens in der Nichtbescheidung des im Schriftsatz der Verteidigerin vom 22.09.2017 erneut gestellten Entbindungsantrags (OLG Dresden a.a.O.), wobei die für die Stellung des Entbindungsantrags durch den Verteidiger erforderliche besondere Vertretungsmacht vorliegend dargelegt (dazu OLG Hamm, Beschluss vom 13.07.2011 – III-4 RBs 193/11, juris; OLG Köln NStZ 2002, 268) und durch die dem Amtsgericht vorgelegte Vollmacht nachgewiesen wurde.

b) Die auch vom Senat vertretene Auffassung knüpft demgegenüber an die gesetzliche Formulierung in § 73 Abs. 1 und 2 OWiG an, wonach Bezugspunkt der Anwesenheitspflicht des Betroffenen und der Befreiung hiervon nicht ein bestimmter einzelner Termin, sondern die Hauptverhandlung ist. Wegen dieser gesetzlichen Vorgabe ist es nach der Auffassung des Senats zunächst unerheblich, dass die Befreiung durch das Amtsgericht vorliegend terminbezogen erteilt wurde. Danach war der Betroffene durch den Beschluss vom 10.07.2017 auch von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im verlegten Hauptverhandlungstermin entbunden.

Davon ausgehend liegt der Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darin, dass infolge der unter Verstoß gegen § 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG erfolgten Einspruchsverwerfung der am Morgen des 25.09.2017 gestellte Aussetzungsantrag des Betroffenen unberücksichtigt geblieben ist, dem ansonsten stattzugeben gewesen wäre. Denn Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) ist es, dass dem Betroffenen auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, zur Verfügung zu stellen sind. Dazu gehört in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts (OLG Naumburg DAR 2013, 37; KG DAR 2013, 211; Cierniak/Neuhaus DAR 2014, 2, 4 f.; a.A. – nicht tragend – OLG Frankfurt NStZ-RR 2013, 223). Kommt das Gericht dem trotz eines – vorliegend in der Begründungsschrift dargelegten und aus den Akten nachvollziehbaren – rechtzeitig gestellten Antrags nicht nach, rechtfertigt dies den Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung (BGH NStZ 1985, 87; Cierniak/Neuhaus a.a.O.).

Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt auf die Rechtsbeschwerde zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung (§ 79 Abs. 1 Satz 2, Abs. 6 OWiG).