Der Verteidiger des Betroffenen übersandte innerhalb der Wochenfrist einen Rechtsbeschwerdefrist über sein Anwaltspostfach (beA). Dabei wurde das gerichtliche Aktenzeichen ungenau angegeben (Groß- und Kleinschreibung des Kürzels “OWi”), so dass das elektronische Dokument zwar auf dem Server des Amtsgerichts einging, in der Folge aber nicht zugeordnet werden konnte und in der Folge ein Urteil ohne Gründe zu der Akte gelangte. Das AG verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig, was vom OLG aufgehoben wurde: Die interne Zuordnung elektronisch zugegangener Schriftstücke falle in die Sphäre des Gerichts, so dass den Betroffenen kein Verschulden daran treffe, dass der Richterin der Rechtsmittelschriftsatz zunächst nicht vorlag. Das Amtsgericht könne nun die Urteilsgründe ergänzen.
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 07.12.2020 – 1 OWi 2 Ss Bs 165/20
Auf den Antrag des Betroffenen auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts über die Zulässigkeit seiner Rechtsbeschwerde hin wird der Beschluss des Amtsgerichts Ludwigshafen am Rhein vom 9. Oktober 2020 aufgehoben.
Gründe
I.
Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen am 19. Mai 2020 wegen vorsätzlichen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit um 33 km/h zu einer Geldbuße von 270 Euro und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat. In der Hauptverhandlung waren sowohl der Betroffene als auch sein Verteidiger anwesend. Eine Rechtsmittelbelehrung wurde mündlich erteilt, auf schriftliche Rechtsmittelbelehrung wurde verzichtet. Am 2. Juni 2020 gelangte das schriftliche Urteil in gemäß § 77 b Abs. 1 Satz 1 OWiG ohne Gründe abgefasster Form zu den Akten und wurde in der Folge dem Betroffenen und seinem Verteidiger übermittelt. Am 3. Juli 2020 erreichte das Amtsgericht ein Anwaltsschriftsatz des Verteidigers mit welchem dieser beantragte auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hin das Urteil vom 19. Mai 2020 aufzuheben und den Betroffenen freizusprechen. Im Rahmen einer beim Amtsgericht zunächst erfolgten Nachforschung war kein fristgerechter Rechtsmittelschriftsatz, von dem der Verteidiger mitteilte, diesen am 26. Mai 2020 per elektronischem Postfach (EGVP) übermittelt zu haben, auffindbar. Eine erneute Übersendung durch den Verteidiger oder den Betroffenen erfolgte nicht. Mit Beschluss vom 9. Oktober 2020 verwarf das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wegen Verfristung als unzulässig.
Gegen den Verwerfungsbeschluss wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
Eine Überprüfung des elektronischen Eingangs bei dem Amtsgerichts Ludwigshafen am Rhein nach Übersendung einer Abschrift der Rechtsbeschwerdeschrift und der dazugehörigen Sendeprotokolle durch den Verteidiger hat ergeben, dass die Rechtsbeschwerdeschrift tatsächlich am 26. Mai 2020 auf dem elektronischen Eingangsserver des Amtsgerichts eingegangen ist, dem EDV-Fachverfahren des Gerichts aber wegen einer Schreibungenauigkeit beim Aktenzeichen (Groß- und Kleinbuchstaben beim Aktenzeichenbestandteil „OWi“) nicht zugeordnet werden konnte, so dass dies für die Geschäftsstelle der Bußgeldabteilung nicht sichtbar war. Eine grundsätzlich vorzunehmende Zuordnung misslang aus Gründen, die nicht dem Betroffenen zuzurechnen sind.
Die Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet und führt zur Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 9. Oktober 2020.
1. Entgegen der Annahme des Amtsgerichts hat der Verteidiger für den Betroffenen rechtzeitig – und auch im Übrigen zulässig – das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom 19. Mai 2020 eingelegt. Die Rechtsbeschwerdeschrift ist nachweislich innerhalb der einwöchigen Rechtsmittelfrist (§ 341 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) auf dem Server des Amtsgerichts eingegangen, was für eine fristgerechte Einlegung seit dem 1. Januar 2020 (vgl. Senatsbeschluss vom 11.04.2019 – 1 OWi 2 Ss Rs 131/18, NStZ-RR 2019 228) ausreichend ist, § 32 a Abs. 5 StPO iVm. § 110 c OWiG (vgl. BeckOK StPO/Valerius, 38. Ed. 1.10.2020, StPO § 32a Rn. 15). Die interne Zuordnung elektronisch zugegangener Schriftstücke fällt in die Sphäre des Gerichts, so dass den Betroffenen kein Verschulden daran trifft, dass der Einzelrichterin der Rechtsmittelschriftsatz beim Erlass des Verwerfungsbeschlusses vom 9. Oktober 2020 nicht vorlag.
2. Der Senat hat mit der vorliegenden Entscheidung zugleich festgestellt, dass die Rechtsmittelfrist gewahrt wurde. Entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO iVm. § 71 Abs. 1 OWiG hat dies zur Folge, dass das Amtsgericht die Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nachfertigen kann. Der Tatrichter durfte nach (damaliger) Aktenlage davon ausgehen, dass die Fertigung des Urteils nach § 77 b Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz OWiG ohne Gründe möglich ist (vgl. zum Umfang der Aufklärungspflicht des Tatrichters im ähnlichen Fall des Abwesenheitsurteils nach § 74 OWiG KG Berlin Beschluss vom 26.02.2020 – 3 Ws (B) 50/20-162 Ss 16/20, BeckRS 2020, 8813 Rn. 4). Die nachträgliche Feststellung, dass dies nicht der Fall war, macht es erforderlich das weitere Verfahren gemäß § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO iVm. § 71 Abs. 1 OWiG zu gestalten (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 397/17, juris; BayObLG, Beschluss vom 23. Juli 2020 – 201 ObOWi 881/20, BeckRS 2020, 28926). Die Frist für die Ergänzung der Urteilsgründe beginnt, sobald die Akten nach der Feststellung des Nichtvorliegens eines Abkürzungsgrundes gemäß § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO bei dem für die Ergänzung zuständigen Gericht eingehen (vgl. wie zuvor sowie BGH, Beschluss vom 10. September 2008 – 2 StR 134/08, BGHSt 52, 349, 352 ff.).
3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen (vgl. KK-StPO/Gericke, 8. Aufl. 2019, StPO § 346 Rn. 23 mwN.)
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