Mit diesem Beschluss überträgt das OLG Zweibrücken die Rechtsprechung des BVerfG zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren auf “Lebensakten” bzw. ähnliche Unterlagen. Unabhängig von deren Benennung durch die jeweilige Behörde (Lebensakte, Gerätebuch, Geräteakte…) sei zu erwarten, dass diese entsprechende Vorgänge am Messgerät dokumentiere und zumindest für den in § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG angegebenen Zeitraum aufbewahre. Diese seien auf Antrag dann der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.

OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27.04.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Dürkheim vom 13. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf dessen in zulässiger Weise eingelegten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidiums Rheinpfalz – Zentrale Bußgeldstelle – vom 2. Oktober 2019 (Az.: …) am 13. Juli 2020 wegen fahrlässigen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von mindestens 33 km/h zu einer Geldbuße von 145,- Euro verurteilt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seinem auf die Beanstandung der Verletzung förmlichen und materiellen Rechts gestützten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken hat am 8. Oktober 2020 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Hierzu hat die Verteidigung am 21. Oktober 2020 eine Gegenerklärung abgegeben, in der sie an ihrem Antrag festhält.

Der originär zuständige Einzelrichter hat die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen und die Sache mit Beschluss vom 15. April 2021 auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 1 und 3 OWiG).

Das nach § 79 Abs. 1 S. 2, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG statthafte Rechtsmittel ist begründet und führt zum Erfolg. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindlichen Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen zu dem bei der Messung verwendeten Messgerät durch das Amtsgericht Bad Dürkheim ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar.

II.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene mit einem PKW, amtliches Kennzeichen …, am 9. August 2019 gegen 14:… Uhr öffentliche Straßen, zuletzt die A 65 und nahm sodann die Ausfahrt Deidesheim und fuhr auf die Bundesstraße 271 auf. Zu diesem Zeitpunkt fand eine mobile Geschwindigkeitsüberwachung durch die Polizei, durchgeführt von dem Zeugen Polizeikommissar … statt. Es handelt sich hierbei um einen Bereich außerhalb geschlossener Ortschaften; an der Messstelle ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h begrenzt, was aus beiden Richtungen der A 65 beidseitig durch entsprechende Verkehrsschilder angezeigt wird, die auf die Begrenzung 80 km/h hinweisen. Die durchgeführte Messung betraf lediglich den ankommenden Verkehr in Fahrtrichtung Bad Dürkheim und wurde mittels Lichtschrankenmessung Typ ES 3.0 (Hersteller Eso GmbH) durchgeführt.

III.

Die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung.

1) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen am 2. Oktober 2019, dem Betroffenen am 9. Oktober zugestellt, und Einspruch am 17. Oktober 2019, bestellte sich die Verteidigerin und beantragte in Unkenntnis der Abgabe gemäß § 69 Abs. 3 OWiG Akteneinsicht bei der Verwaltungsbehörde. Mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2019 beantragte die Verteidigerin gegenüber der Bußgeldbehörde ihr zusätzlich Folgendes zur Verfügung zu stellen:

– Digitale Falldaten mit unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamten Messreihe
– Statistikdatei und Public-Key des Messgerätes
– die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise des Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme mit Gerätebegleitkarte sowie
– Beschilderungsplan und verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsmessung.

Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 überließ die Bußgeldbehörde der Verteidigerin daraufhin eine CD mit folgendem Inhalt: Schulungsnachweise Auswerter, einzelne Falldatei/Public Key, Bild mit Schlüsselsymbolen, entschlüsselte/ konvertierte Bilder, Statistikdatei, Softwareversion (ESO-Viewer) sowie mit Schreiben vom 24. Januar 2020 einen Vermerk zur Beschilderung. Die fehlende Übersendung der weiteren angeforderten Unterlagen wurde nicht begründet.

Mit Schreiben vom 3. März 2020 beantragte die Verteidigerin gerichtliche Entscheidung dahingehend, die Verwaltungsbehörde anzuweisen, der Verteidigung die folgenden Unterlagen zur Verfügung zu stellen:

– Digitale Falldatensätze der gesamten Messreihe mit unverschlüsselten Rohmessdaten
– Public Key des Messgerätes in digitaler Form
– vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Gerätebegleitkarte, falls vorhanden)
– verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung

Das Amtsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 4. März 2020 mit der Begründung zurück, dass kein Anspruch darauf bestehe die Verwaltungsbehörde zur Übermittlung der erbetenen Unterlagen anzuweisen.

Mit Schreiben vom 12. März 2020 beantragte die Verteidigerin beim Amtsgericht Einsicht in die amtliche Ermittlungsakte. Mit Schreiben vom 14. Mai 2020 erinnerte sie an das Akteneinsichtsgesuch und beantragte, den für den 25. Mai 2020 terminierten Hauptverhandlungstermin aufzuheben. Nach Aufhebung des anberaumten Hauptverhandlungstermins und Gewährung von Akteneinsicht beantragte die Verteidigerin gegenüber dem Amtsgericht erneut, Folgendes zur Verfügung zu stellen:

– Digitale Falldatensätze der gesamten Messreihe mit unverschlüsselten Rohmessdaten
– Public Key des Messgerätes in digitaler Form
– vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Gerätebegleitkarte, falls vorhanden)
– verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung

Nachdem das Gericht auf seinen Beschluss vom 4. März 2020 verwiesen hatte, legte die Verteidigerin gegen die Nichtüberlassung der weiteren beantragten Messunterlagen durch das Amtsgericht Beschwerde ein und beantragte, der Verteidigung die oben genannten Daten und Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Nach Nichtabhilfe durch das Amtsgericht und Vorlage durch die Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Frankenthal (Pfalz) mit Beschluss vom 17. Juni 2020 die Beschwerde der Verteidigerin zurückgewiesen.

In der Hauptverhandlung beantragte der mit Untervollmacht mandatierte Verteidiger des Betroffenen die Aussetzung des Verfahrens, die Zurverfügungstellung der digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit unverschlüsselten Rohmessdaten, des Public Key des Messgerätes in digitaler Form, der vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Gerätebegleitkarte, falls vorhanden) sowie der verkehrsrechtlichen Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung. Überdies beantragte er über beide Anträge durch Gerichtsbeschluss zu entscheiden. Das Amtsgericht hat den Beiziehungs- und Aussetzungsantrag abgelehnt, da über die Beiziehung der Unterlagen bereits entschieden, Akteneinsicht bereits ordnungsgemäß gewährt worden sei und demgemäß kein Aussetzungsgrund vorliege.

Auch nach der Urteilsverkündung bemühte sich die Verteidigung weiterhin gegenüber der Verwaltungsbehörde Einsicht in begehrten Daten und Unterlagen, die Falldatensätze der gesamten Messreihe, den Public Key in digitaler Form, vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Gerätebegleitkarte, falls vorhanden) sowie die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung, zu erhalten. Die Bußgeldstelle reagierte auf dieses Schreiben nicht mehr.

Der Betroffene rügt in seiner Rechtsbeschwerdebegründungsschrift unter anderem durch die Nichtüberlassung von nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt und in seiner Verteidigung unzulässig beschränkt worden zu sein.

2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Das Amtsgericht hätte auf den Hinweis der Verteidigung, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung immer noch keine Einsicht in vorhandene Wartungs- und Instandsetzungsnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Garantiekarte, falls vorhanden) erhalten zu haben, dem gleichzeitig gestellten Aussetzungsantrag stattgeben müssen. Der Senat schließt sich insoweit der einheitlichen obergerichtlieben Rechtsprechung an, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Absatz 1 Satz 1 MRK dem Betroffenen das Recht zuspricht, dass auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung zu stellen sind (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020- 2 BvR 1616/18, Rn 51; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Mai 2020 – 2 OWi 6 SsRs118/19, juris Rn 9 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12. Januar 2020-2 Rb 8 Ss 837/17, juris Rn 13; OLG Naumburg, Beschluss vom 5. November2012- 2 Ss (Bz) 100/12, DAR 2013, 37; KG, Beschluss vom 7. Januar 2013- 3 Ws (b) 596-12/162 Ss 178/12, DAR 2013, 211). Hierzu gehören in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die vorhandenen Wartungs- und Instandsetzungsnachweise im Eichzeitraum (sog. “Lebensakte”, “Reparaturbuch”, “Gerätebuch” oder “Gerätebegleitkarte”, vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09. Dezember 2015 – 2 Ws 221/15, juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 31; LG Trier, Beschluss vom 14. September 2017 – 1 Qs 46/17, juris Rn. 38). Denn bei einem standardisierten Messverfahren – die Messmethode des verwendeten Messgeräts ES 3.0 ist als solches anerkannt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 16. Oktober 2009- 1 SsRs 71/09, juris Rn. 2) – sind an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte geringere Anforderungen zu stellen. Das Tatgericht ist nur dann gehalten, dass Messergebnis zu überprüfen, und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (vgl. BVerfG a.a.O. Rn 42 f. m.w.N.). Dem Betroffenen ist durch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und entsprechende Beweisanträge, Beweisermittlungsanträge oder Beweisanregungen stellen, in prozessual ausreichender Weise Gelegenheit gegeben, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983, 2 BvR 864/81, juris Rn 68; BGH, 4 StR 627/92. a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 13. Juni 2018, 3 Ss OWi 626/18, juris Rn 12). Um jedoch, wie gefordert, konkrete Anhaltspunkte vortragen zu können, muss der Betroffene die Möglichkeit haben, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlungen entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfG, 2 BvR 1616/19, Rn. 51). Der Beiziehungs- und Aussetzungsantrag des Betroffenen war insoweit so zu verstehen, dass es dem Betroffenen ausschließlich um die Zugänglichmachung der nicht bei der Akten befindlichen Informationen ging, um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messergebnisses zu haben. Die prozessualen Möglichkeiten des Betroffenen wurden somit vorliegend eingeschränkt, da erst durch Zugänglichmachung der begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen der Betroffene auch, in der Lage gewesen wäre, Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messgeräts zu erkennen und zu benennen. § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz normiert eine Verpflichtung, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät herzustellen und aufzubewahren. Unabhängig von der Frage, welche Bezeichnung diese Unterlagen haben (Lebensakte, Reparaturbuch, Gerätebuch oder Gerätebegleitkarte o.ä.) ist zu erwarten, dass entsprechende Vorgänge dokumentiert sind und jedenfalls in dem in§ 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz angegebenen Mindestzeitraum aufbewahrt werden. Daher wäre das Amtsgericht angehalten gewesen, sich um die Herausgabe entsprechender Unterlagen, zumindest sich aber darum zu bemühen, eine Aussage darüber zu erhalten, ob Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät vorliegen. Der tatsächlichen Nichtübersendung der angeforderten Unterlagen durch die Verwaltungsbehörde ohne weitere Begründung kann eine solche Erklärung nicht entnommen werden. Dem Ansinnen des Betroffenen war deutlich zu entnehmen, dass die Verteidigung die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen begehrte, um die ordnungsgemäße Messung überprüfen zu können. Diese Unterlagen hat die Verteidigung trotz mehrfachen Bemühens und Herbeiführens einer gerichtlichen Entscheidung zu ihren Gunsten weder seitens der Verwaltungsbehörde noch seitens des Amtsgerichts überlassen bekommen. Spätestens auf den entsprechenden Antrag der Verteidigung hin wäre das Tatgericht gehalten gewesen, die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät bei der Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.

Das Urteil des Amtsgerichts Bad Dürkheim mit den dazugehörigen Feststellungen war daher aufzuheben und zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens an das Amtsgericht Bad Dürkheim zurückzuverweisen.

Soweit in der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte das Recht auf Einsicht in konkret vorhandene oder auch nur möglicherweise vorhandene Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen unterschiedlich beurteilt wurde (zum Meinungsstand in der obergerichtlichen Rechtsprechung vgl. nur Niehaus, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren, 6. Aufl. Rn. 2874 m.w.N.) und in einer unterbliebenen Zugänglichmachung der von dem Betroffenen begehrten und nicht zu den (Gerichts-) Akten gelangten Messunterlagen kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gesehen wurde (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20, juris), ist eine Divergenzvorlage an den Bundesgerichtshof gem. § 121 GVG angesichts der danach ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 (vgl. BVerfG a.a.O.) nicht geboten.

IV.

Der Senat hatte keinen Anlass, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an eine andere Abteilung oder ein anderes Amtsgericht zu verweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

Mitgeteilt von Rechtsanwälte Zimmer-Gratz, Bous.