Etwas untergegangen ist bisher ein zeitgleich mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichtes Urteil des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg, ebenfalls in Bezug auf Einsichtnahmen in Messreihen und Lebensakten. Der VerfGH in Stuttgart argumentiert ähnlich wie Anfang 2020 bereits der VerfGH Koblenz: Auf Grund der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung muss die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zugelassen werden, damit der Senat über eine Divergenzvorlage zum BGH entscheiden kann. Wird in dieser Situation der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde vom Einzelrichter des OLG ohne Begründung verworfen, sind die Grundrechte auf effektiven Rechtsschutz sowie auf den gesetzlichen Richter verletzt.

VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2020 – 1 VB 64/17

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. September 2017 – 1 Rb 7 Ss 486/17 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Art. 23 Abs. 1 LV sowie in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

3. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes im Straßenverkehr, die er insbesondere wegen der Ablehnung seiner im Verfahren gestellten Anträge auf Beiziehung von Geräte- und Messunterlagen sowie auf Einsichtnahme in diese für verfassungswidrig hält.

1. Mit Bußgeldbescheid vom 9. September 2016 verhängte das Ordnungsamt Karlsruhe gegen den Beschwerdeführer eine Geldbuße in Höhe von 200,00 Euro und ein einmonatiges Fahrverbot wegen der Missachtung einer Rot zeigenden Ampel in der Nacht vom 4. auf den 5. August 2016 in der Karlsruher Innenstadt. Im Rahmen seiner Anhörung vor Erlass des Bescheides hatte der Beschwerdeführer angegeben, dass er das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt geführt habe, die Ampelanlage aber ausgeschaltet gewesen sei. Zum Beweis hierfür benannte er seinen Beifahrer und den Fahrer des hinter ihm fahrenden Fahrzeugs als Zeugen.

2. Unter dem 19. September 2016 legte der Beschwerdeführer durch seine Verteidigerin Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Am 29. September 2016 beantragte sie bei der Bußgeldstelle die Herausgabe der digitalen Falldaten der gesamten Messserie in unverschlüsselter Form, also sämtlicher Rotlichtverstöße an der betreffenden Ampelanlage, sowie die dazugehörige Statistik(-Datei), die Lebensakte des Messgeräts oder ersatzweise alle Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise seit der ersten Inbetriebnahme, den Vertrag der Stadt Karlsruhe mit dem mit der Auswertung von Verkehrsverstößen beauftragten Privatdienstleister und den elektronischen Datenerfassungsbeleg über den Zugang der Ordnungswidrigkeit.

3. Die Stadt Karlsruhe übersandte der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers unter dem 13. Oktober 2016 die den Beschwerdeführer betreffenden Datensätze und digitalen Lichtbilder sowie den Datenerfassungsbeleg und teilte mit, dass das Messgerät über eine Zulassung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und eine gültige Eichung verfüge, weshalb das Führen einer Lebensakte nicht erforderlich sei. Daraufhin stellte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers bei der Stadt Karlsruhe am 19. Oktober 2016 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG mit dem Begehren, der Verwaltungsbehörde aufzugeben, ihr auch die übrigen im Antrag genannten Unterlagen zu überlassen. Zur Begründung brachte sie vor, dass der Beschwerdeführer aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör und dem Gebot eines fairen Verfahrens ein Recht auf Überlassung der Unterlagen habe, da diese benötigt würden, um unter Einschaltung eines Sachverständigen mögliche Messfehler aufdecken und die Erfolgsaussichten eines Einspruchs einschätzen zu können.

4. Am 24. November 2016 beantragte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers zudem bei der Stadt, ihr „das die Tatzeit betreffende Leitrechnerprotokoll (Verkehrsrechnermitschrieb), den Signallageplan sowie die bei Beginn der Messreihe angefertigten Test-/Kalibrierfotos zur Verfügung zu stellen“, ferner „mitzuteilen, welche Leuchtmittel zur Tatzeit in der Lichtzeichenanlage verwendet wurden, wie alt diese damals waren sowie wann diese vor der Tatzeit zuletzt ersetzt worden sind“. Diese Unterlagen wurden von der Stadt am 2. Dezember 2016 bis auf das Leitrechnerprotokoll übersandt; hierzu teilte das Tiefbauamt mit, dass daraus keine Störungen ersichtlich seien.

5. Am 12. Januar 2017 leitete die Bußgeldstelle den Einspruch des Beschwerdeführers gegen den Bußgeldbescheid und seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung an die Staatsanwaltschaft Karlsruhe weiter, die die Akte am 24. Januar 2017 dem Amtsgericht Karlsruhe vorlegte.

6. Nachdem sich der Beschwerdeführer mit der Anregung des Amtsgerichts vom 26. Januar 2017, wegen gerichtsbekannter Unübersichtlichkeit der Ampelanlage im Wege des Beschlussverfahren nach § 72 Abs. 1 OWiG eine Geldbuße in Höhe von 200,00 Euro zu verhängen und von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen, nicht einverstanden erklärt hatte, lehnte das Amtsgericht am 15. Februar 2017 den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung ab, da für die beantragte Übersendung der Unterlagen keine Rechtsgrundlage ersichtlich sei.

7. Am 20. Februar 2017 beantragte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers beim Amtsgericht erneut die Übersendung aller noch nicht erhaltenen Unterlagen. Dies lehnte das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag mit der Begründung ab, dass dem Gericht nicht vorliegende Unterlagen der Verteidigerin nicht übersandt werden könnten.

8. Gegen diesen Beschluss legte die Verteidigerin des Beschwerdeführers unter dem 23. Februar 2017 nach § 304 Abs. 1 StPO Beschwerde ein, die das Landgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 30. März 2017 als nach § 305 Satz 1 StPO unzulässig verwarf.

9. In der Hauptverhandlung am 3. und am 10. April 2017 wurden die vom Beschwerdeführer benannten Zeugen und die zuständige Mitarbeiterin der Stadt Karlsruhe vernommen. Der Terminsvertreter der Bevollmächtigten stellte im Rahmen der Hauptverhandlung am 10. April 2017 mehrere schriftliche Beweisanträge, gerichtet unter anderem auf Beiziehung und Verlesung der auch zuvor geforderten Unterlagen, auf Vernehmung aller am 8. und 9. Juli 2016 von der Überwachungsanlage erfassten Fahrzeugführer als Zeugen und auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die Lichtzeichenanlage zum Zeitpunkt der Messung kein rotes Licht gezeigt habe, sowie einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens zur Prüfung der Unterlagen. Das Amtsgericht lehnte die Beweisanträge als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ab und verurteilte den Beschwerdeführer wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes zu der Geldbuße von 200,00 Euro.

Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die zuständige Mitarbeiterin der Stadt glaubhaft angegeben habe, die Anlage am 4. Juli 2016 gemäß der Bedienungsanleitung überprüft und dabei festgestellt zu haben, dass sie sich in ordnungsgemäßem Zustand befunden habe; das Eichsiegel sei unversehrt und die Eichung vom 28. April 2015 noch bis 31. Dezember 2017 gültig gewesen. Weder vor noch nach dem Tatzeitpunkt habe es Auffälligkeiten an der Rotlichtüberwachungsanlage gegeben. Wenn diese zum Tatzeitpunkt ausgefallen gewesen wäre, hätte sie danach wieder neu in Betrieb genommen werden müssen; ein automatisches Hochfahren sei nicht möglich.

Daher gehe das Gericht davon aus, dass der Beschwerdeführer wie auch die von ihm benannten Zeugen die Ampelanlage, die häufig übersehen werde, nicht bemerkt hätten. Wegen der besonderen Umstände dieser Ampel erachte das Gericht daher zwar die Festsetzung der Regelgeldbuße in Höhe von 200,00 Euro, nicht aber die Verhängung eines Fahrverbots für erforderlich und ausreichend.

10. Die Verteidigerin des Beschwerdeführers stellte am 18. April 2017 den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen dieses Urteil und begründete ihn mit Schriftsatz vom 31. Mai 2017. Das Oberlandesgericht Karlsruhe verwarf den Antrag – wie von der Generalstaatsanwaltschaft unter dem 25. Juli 2017 beantragt – mit nicht begründetem (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG) Beschluss vom 5. September 2017. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge vom 11. September 2017 wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 22. September 2017 als unbegründet zurück.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist am 9. Oktober 2017 beim Verfassungsgerichtshof eingegangen.

Zu ihrer Begründung bringt der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, die Verweigerung der Beiziehung und Herausgabe der beantragten Unterlagen verletze ihn in seinem Recht auf ein faires Verfahren. Gehe ein Gericht – wie hier – von der Anwendung eines standardisierten Messverfahrens aus und sehe es sich daher nicht zu einer Überprüfung aller Einzelheiten der Messung verpflichtet, sei es von Verfassungs wegen zur Herstellung der „Waffengleichheit“ geboten, dass der Betroffene in die Lage versetzt werde, konkrete Messfehler aufzufinden, wofür er Einsicht in die genannten Unterlagen benötige. Die Ablehnung der gestellten Beweisanträge mit der Begründung, sie seien zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich, verstoße zudem gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG), weil die Tatsache, dass keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler vorgetragen worden seien, allein darauf beruhe, dass diejenigen Unterlagen, die diese Anhaltspunkte enthalten könnten, nicht herausgegeben worden seien.

Die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde durch das Oberlandesgericht Karlsruhe verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, da die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung insbesondere deshalb geboten gewesen sei, weil die Entscheidung des Amtsgerichts Karlsruhe von zahlreichen bundesweit ergangenen Entscheidungen anderer Gerichte zur Frage der Einsichtnahme in Mess- und Geräteunterlagen abweiche.

Da das Oberlandesgericht Karlsruhe in dieser Frage darüber hinaus entscheidungserheblich von anderer obergerichtlicher Rechtsprechung abweiche, begründe die unterbliebene Divergenzvorlage zum Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

III.

1. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Ministerium der Justiz und für Europa und dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg zugestellt. Beide Ministerien haben von einer Stellungnahme abgesehen.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat die Akte des Amtsgerichts Karlsruhe beigezogen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte auf effektiven Rechtsschutz und den gesetzlichen Richter rügt, zulässig (I.) und begründet (II.). Einer Entscheidung über die übrigen Rügen des Beschwerdeführers bedarf es nicht (III.).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. September 2017 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 23 Abs. 1 LV) sowie den gesetzlichen Richter (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

a) Rechtsschutz vor den Gerichten wird über die in Art. 67 Abs. 1 LV verankerte Rechtsweggarantie hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (Art. 23 Abs. 1 LV) gewährleistet (vgl. StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3.11.2014 – 1 VB 8/14 -, Juris Rn. 47; BVerfGE 93, 99 [107] – Juris Rn. 29; BVerfGE 107, 395 [401] – Juris Rn. 16ff.).

Der Justizgewährungsanspruch beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind (BVerfG, Beschluss vom 28.10.2020 – 2 BvR 765/20 -, Juris Rn. 52). Er ist unter anderem verletzt, wenn ein Gericht den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen von Voraussetzungen abhängig macht, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren (vgl. BVerfGE 112, 185 [208] – Juris Rn. 92; BVerfGE 78, 88 [99] – Juris Rn. 23 f.; BVerfG, Beschluss vom 26.1.1993 – 2 BvR 1058/92 -, Juris Rn. 12). Der Verfassungsgerichtshof prüft hierbei nicht die Richtigkeit der Anwendung des einfachen Rechts durch die Gerichte, sondern nur, ob diese Verfassungsrecht verletzt.

b) Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet dem Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Dieser ergibt sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs-und Besetzungsregelungen des Gerichts (vgl. VerfGH, Beschluss vom 25.3.2019 – 1 VB 2/18 -, Juris Rn. 3).

Der gesetzliche Richter kann auch dadurch entzogen werden, dass ein Gericht die gesetzliche Pflicht zur Vorlage an ein anderes Gericht außer Acht lässt (BVerfGE 23, 288 [319] – Juris Rn. 121). Die Entscheidung über eine Vorlage an den Bundesgerichtshof trifft in Bußgeldsachen der mit drei Richtern besetzte Bußgeldsenat (vgl. BGHSt 44, 144 [145] – Juris Rn. 9).

Indes kann eine „Entziehung” des gesetzlichen Richters nicht in jeder fehlerhaften Anwendung der einfachrechtlichen Zuständigkeitsregeln gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286 [299] – Juris Rn. 62; VerfGH, Urteil vom 23.9.2019 – 1 VB 65/17 -, Juris Rn. 37; Beschluss vom 25.3.2019 – 1 VB 2/18 -, Juris Rn. 4).

Der Verfassungsgerichtshof prüft im Rahmen der Rüge einer unterbliebenen Divergenzvorlage daher nicht im Einzelnen nach, ob eine entscheidungserhebliche Abweichung vorlag. Entscheidend ist vielmehr, ob der angegriffene Beschluss sich mit den als divergierend in Betracht kommenden Entscheidungen auseinandersetzt und nachvollziehbare Gründe erkennbar sind, warum das Gericht von einer Vorlage abgesehen hat (vgl. BVerfGE 101, 331 [360] – Juris Rn. 116; BVerfG, Beschluss vom 2.3.2009 – 2 BvR 1032/08 -, Juris Rn. 13).

2. Gemessen an diesen Maßstäben verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. September 2017 den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz und den gesetzlichen Richter.

Die Rechtsbeschwerde hätte vorliegend zugelassen werden müssen. Der mit der Entscheidung über die Zulassung befasste Einzelrichter hätte die Sache gemäß § 80a Abs. 3 OWiG auf den mit drei Richtern besetzten Bußgeldsenat übertragen müssen, um die Entscheidung über eine etwaige Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG zu ermöglichen. Anlass hierzu gab die von der Rechtsprechung noch nicht abschließend und auch uneinheitlich beantwortete Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Betroffene ein ungeschriebenes Recht auf Beiziehung von und Einsicht in behördliche Unterlagen zur technischen Verlässlichkeit standardisierter Messverfahren (wie die sogenannte „Lebensakte“ des Messgeräts sowie weitere Unterlagen zu dessen Beschaffenheit und Verwendung) hat, selbst wenn das Gericht sie nach sorgfältiger Prüfung und unter Berücksichtigung seiner Amtsaufklärungspflicht für nicht beweiserheblich hält und deshalb ihre Anforderung von der Bußgeldbehörde ablehnt.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ergeben sich aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG (a). Es liegen bislang keine eindeutigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, jedoch zahlreiche divergierende Entscheidungen verschiedener Oberlandesgerichte zur vorstehend bezeichneten Rechtsfrage vor (b). Angesichts dessen liegt eine Abweichung des hier streitgegenständlichen Beschlusses von der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte zumindest nahe (c). Die Rechtsbeschwerde hätte daher zum Zwecke der näheren Prüfung einer Vorlage an den Bundesgerichtshof zugelassen werden müssen. Stattdessen hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in den Beschlüssen vom 5. September 2017 sowie vom 22. September 2017 eine Pflicht zur Divergenzvorlage ohne nähere Auseinandersetzung mit ihren Voraussetzungen verneint und hierdurch die die Rechte des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter (Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt (d).

a) Nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG lässt das Beschwerdegericht bei Verurteilungen zu einer Geldbuße von mehr als 100,00 Euro und weniger als 250,00 Euro die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 1 Satz 2 OWiG auf Antrag zu, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts (Alt. 1) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Alt. 2) zu ermöglichen. Beide Zulassungsgründe gehen fließend ineinander über (vgl. Bohnert/Krenberger/Krumm in: Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Auflage 2020, § 80 Rn. 14).

aa) Eine Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 OWiG zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (BGH, Beschluss vom 12.11.1970 – 1 StR 263/70 -, Juris Rn. 30 m.w.N.). Dies ist unter anderem anzunehmen, wenn mit der Zulassung der Rechtsbeschwerde über § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG im Wege einer Divergenzvorlage eine höchstrichterliche Entscheidung zu einer streitigen Rechtsfrage herbeigeführt werden soll (vgl. auch Bär, in: BeckOK OWiG, 24. Edition, Stand: 1.10.2020, § 80 Rn. 6 f. m.w.N.; Hadamitzky, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 37).

bb) Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wird die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 OWiG zugelassen, wenn sonst schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen würden (Bohnert/Krenberger/Krumm, in: Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Auflage 2018, Rn. 15 m.w.N.). Dies kommt allerdings nur bei Rechtsfragen in Betracht, die nicht nur für den Einzelfall, sondern allgemein für die Rechtsanwendung von Bedeutung sind. Im Wege der Zulassung der Rechtsbeschwerde kann dabei über die Vorlageverpflichtung gemäß § 121 Abs. 2 GVG die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Revisions- und Rechtsbeschwerdegerichte gesichert werden (vgl. Hadamitzky, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 80a Rn. 9 f. m.w.N.; ebenso Krumm, in: Blum/Gassner/Seith, OWiG, 2016, § 80a Rn. 8).

b) Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach Grund und Reichweite eines ungeschriebenen Rechts auf Beiziehung von und Einsicht in behördliche Unterlagen zur technischen Verlässlichkeit standardisierter Messverfahren wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht haben sich lediglich zu verwandten Fragen des Beweisrechts geäußert (aa). Auf dieser Grundlage und aus einer spezifisch beweisrechtlichen Perspektive lehnt ein Teil der Oberlandesgerichte einen solchen Verschaffungsanspruch ab (bb). In den letzten Jahren vor dem streitgegenständlichen Beschluss haben jedoch mehrere Oberlandesgerichte die Ablehnung entsprechender Beweisanträge als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beanstandet (cc). Danach sind noch weitere, vom Oberlandesgericht Karlsruhe nicht mehr zu berücksichtigende Entscheidungen ergangen, ohne dass es hierdurch zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung gekommen wäre (dd).

aa) Der Bundesgerichtshof hat sich in zwei grundlegenden Beschlüssen aus den Jahren 1993 und 1997 mit Geschwindigkeitsmessungen im standardisierten Messverfahren und den Anforderungen an die Urteilsbegründung auseinandergesetzt (1). Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht zu Fragestellungen des standardisierten Messverfahrens geäußert. In einem Beschluss aus dem Jahr 1983 zum Einsichtsrecht des Beschuldigten im Strafverfahren hat es sich jedoch unter anderem mit der Einsichtnahme in Unterlagen, die dem Gericht nicht vorliegen, beschäftigt (2).

(1) Der Bundesgerichtshof hat sich erstmals in seinem Beschluss vom 19. August 1993 (4 StR 627/92, NJW 1993, 3081 – Juris) zu den Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Einsatz eines standardisierten Messverfahrens in Bußgeldverfahren geäußert. Das Bußgeldverfahren, das nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung diene, sei im Hinblick auf seine vorrangige Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens auf eine Vereinfachung des Verfahrensganges ausgerichtet. Daher müssten in Fällen, in denen die Überzeugung des Tatrichters auf Messergebnissen beruhe, die mit anerkannten Geräten in einem weithin standardisierten Verfahren gewonnen würden, im Rahmen der Beweiswürdigung Fehlerquellen nur dann erörtert werden, wenn der Einzelfall hierzu Veranlassung gebe. Der Tatrichter sei nicht verpflichtet, ohne besonderen Anlass weitergehende Erörterungen über die Zuverlässigkeit der Messmethode oder mögliche Fehlerquellen anzustellen. Vielmehr genüge insoweit die Angabe des angewandten Messverfahrens und des Toleranzwertes (BGH, a.a.O., NJW 1993, 3081 [3083 f.] – Juris Rn. 33). Nur wenn er konkrete Anhaltspunkte für Messfehler habe, müsse er sich darüberhinausgehend von der Zuverlässigkeit der Messung überzeugen (BGH, a.a.O., NJW 1993, 3081 [3083] – Juris Rn. 28).

An dieser Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in einem Beschluss aus dem Jahr 1997 festgehalten. Der Tatrichter habe die Zuverlässigkeit einer Messung, die auf einem anerkannten und weitgehend standardisierten Messverfahren beruhe, nur dann zu überprüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler bestünden. Komme er in diesen Fällen seiner Aufklärungspflicht, etwa nach einem Beweisantrag, nicht nach, so könne dies in der Rechtsbeschwerde mit der Verfahrensrüge angegriffen werden (BGH, Beschluss vom 30.10.1997 – 4 StR 24/97 -, NJW 1998, 321 [322] – Juris Rn. 26).

Im Rahmen beider Verfahren sind keine Anträge auf Beiziehung von und Einsichtnahme in weitere Unterlagen, die nicht zur Gerichtsakte gelangt sind, gestellt worden. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb auch nicht zu ihnen verhalten müssen. Es ist daher jedenfalls nicht abschließend geklärt, ob der Bundesgerichtshof eine solche Beiziehung und Einsichtsgewährung auch dann für geboten erachten würde, wenn der Tatrichter sie unter Berücksichtigung seiner Amtsaufklärungspflicht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts nicht für erforderlich hält.

(2) Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Beschluss vom 12. Januar 1983 (2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45 – Juris) mit einem äußerst umfangreichen Strafverfahren befasst. Während der Ermittlungen waren durch Hinweise und polizeiliche Nachforschungen mehrere tausend Aktenvorgänge, sogenannte „Spurenakten”, entstanden. Den überwiegenden Teil dieser Spurenakten hatte die Staatsanwaltschaft dem Gericht nicht vorgelegt, weil der Inhalt dieser Vorgänge ihrer Auffassung nach für die Schuld- und Straffrage im Verfahren gegen den Beschwerdeführer ohne Bedeutung war (vgl. § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Verteidigung hatte weder vor noch während der Hauptverhandlung bei der Staatsanwaltschaft um Einsicht in die Spurenakten nachgesucht; sie beantragte erst während der Hauptverhandlung die Beiziehung sämtlicher Spurenakten durch das Gericht. Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Frage zu entscheiden, ob die Ablehnung des Antrags auf Beiziehung sämtlicher Spurenakten das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren bzw. dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst klargestellt, dass weder der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht noch das Recht auf ein faires Strafverfahren es erforderlich machten, ausnahmslos alle Ermittlungsvorgänge zum Bestandteil der Gerichtsakten zu machen (BVerfGE 63, 45 [59f.] – Juris Rn. 47 ff.). Es seien von Verfassungs wegen vielmehr nur solche außerhalb der Ermittlungen entstandene Akten dem Gericht vorzulegen und damit der Akteneinsicht des Verteidigers nach § 147 StPO zugänglich zu machen, deren Inhalt für die Feststellung der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat und für etwaige gegen ihn zu verhängende Rechtsfolgen von irgendeiner Bedeutung sein könne (BVerfGE 63, 45 [62] – Juris Rn. 55). Der Beschuldigte habe sodann nach § 147 StPO das Recht, die Akten, die dem Gericht vorliegen, vollständig einzusehen. Das Gericht könne in jedem Stadium des Verfahrens überprüfen, ob die Erforschung der Wahrheit die Beiziehung weitere Akten erfordere (BVerfGE 63, 45 [65] – Juris Rn. 60); einer gerichtlichen Aktenanforderung habe der Staatsanwalt nachzukommen, sofern nicht ein gesetzlich geregelter Ausnahmefall vorliege. Der Beschuldigte könne das durch die Stellung von Beweisanträgen und Beweisermittlungsanträgen zu weiterer Sachaufklärung anregen (BVerfGE 63, 45 [65] – Juris Rn. 62). Daneben bestehe für den Beschuldigten die Möglichkeit, direkt bei der Staatsanwaltschaft Einsicht auch in solche Spurenakten zu nehmen, die dem Gericht nicht vorgelegt worden seien und zu deren Beiziehung das Gericht auch keine Veranlassung gesehen habe. Wenn der Beschuldigte geltend mache, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus diesen Akten – wie Staatsanwaltschaft und Gericht meinen – keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, werde ihm die Einsicht in solche Akten regelmäßig nicht zu versagen sein (BVerfGE 63, 45 [65f.] – Juris Rn. 63).

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts betrifft eine andere Fallkonstellation als die vorliegende, die von den Besonderheiten technischer Geschwindigkeitsmessungen geprägt ist. Der Entscheidung lassen sich zwar allgemeine Leitlinien für die Beantwortung der Frage nach der Existenz und Reichweite eines Rechts auf Beiziehung von dem Gericht nicht vorliegenden Unterlagen und auf Einsicht in diese entnehmen. Ob und inwiefern diese Maßgaben auf die hiesige Konstellation übertragbar sind, ist damit noch nicht hinreichend deutlich entschieden.

bb) Auf der Grundlage der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, regelmäßig aber auch unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte sich eine Rechtsprechung zumindest mancher Oberlandesgerichte, die eine ergänzende Beiziehung weiterer, nicht bei der Gerichtsakte befindlicher Unterlagen aus spezifisch beweisrechtlicher Perspektive nicht in Betracht zieht. Gegenstand dieser Verfahren war häufig die Frage, ob dem Betroffenen die sogenannte „Lebensakte“ des Messgeräts, die – sofern sie überhaupt als solche geführt wird – die Eich-, Wartungs- und Reparaturunterlagen des Messgeräts enthält, oder entsprechende Einzeldokumente zur Verfügung gestellt werden müssen. Daneben ergingen auch Entscheidungen zu anderen Unterlagen wie der Bedienungsanleitung des Messgeräts – oder wie im vorliegenden Fall – der Statistikdatei, dem Leitrechnerprotokoll, den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe sowie Verträgen mit privaten Dienstleistern.

Anknüpfungspunkt dieser Entscheidungen war nicht zuletzt die Aussage des Bundesgerichtshofs, es sei gerade Zweck der amtlichen Zulassung von Messgeräten und der Reduzierung ihrer Messergebnisse um einen (nie auszuschließende Messfehler kompensierenden) Toleranzwert, die „Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und Erörterung des Regelfalles freizustellen“, weshalb Fehlerquellen nur zu erörtern seien, wenn der Einzelfall dazu Veranlassung gebe (BGH, Beschluss vom 19.8.1993 – 4 StR 627/92 -, Juris Rn. 21). An diesem Maßstab halten noch heute insbesondere die Oberlandesgerichte Frankfurt am Main (1), Celle (2) und Bamberg (3) fest, auch wenn sie ihre schon zuvor angelegte Rechtsprechung mit Blick auf die hiesige Fragestellung erst in Entscheidungen präzisierten, die auf die Anerkennung eines entsprechenden Anspruchs durch andere Oberlandesgerichte (hierzu cc) antworteten und daher zeitlich nach diesen ergingen.

Die Entscheidungen dieser Oberlandesgerichte teilen die Grundannahme, dass beim standardisierten Messverfahren wegen seiner besonderen Gewähr für die Richtigkeit der Messergebnisse im Regelfall, also bei Fehlen von Anhaltspunkten für etwaige Messfehler, auf eine weitere Überprüfung der Ergebnisse durch das Gericht verzichtet werden könne. Das Gericht müsse sich im Rahmen der Beweisaufnahme lediglich davon überzeugen, dass das verwendete Messgerät „von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardmäßig, d.h. in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs-/Gebrauchsanweisung verwendet wird“ (OLG Koblenz, Beschluss vom 12.08.2005 – 1 Ss 141/05 -, Juris Rn. 8). Weitere Erkenntnismittel müssten dann nicht hinzugezogen werden. Folglich bestehe aber auch kein Anspruch des Betroffenen auf Beiziehung von und Einsicht in Unterlagen, die die Behörde dem Gericht nicht vorgelegt habe und zu deren Beiziehung sich das Gericht mangels Vorliegens von Anhaltspunkten für Messfehler nicht veranlasst sehen musste. Anträge der Betroffenen auf Beiziehung von Unterlagen oder Einholung von Sachverständigengutachten seien daher rechtsfehlerfrei als Beweisermittlungsanträge zu werten, da sie gerade keine konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fehlern bei der Messung enthielten. Diese könnten die Gerichte ablehnen, ohne gegen ihre Aufklärungspflicht zu verstoßen.

(1) Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat in einer Entscheidung vom 12. April 2013 ausgeführt, dem Betroffenen sei nur dann Einsicht in die Bedienungsanleitung des Messgeräts zu gewähren, wenn diese Teil der Gerichtsakte sei. Der Tatrichter sei hingegen nicht gehalten, die Bedienungsanleitung auf einen entsprechenden Antrag der Verteidigung hin beizuziehen. In der Regel sei der Messbeamte, der die angegriffene Messung vorgenommen habe, das Beweismittel für den ordnungsgemäßen Aufbau des konkreten Messgeräts. Wenn das Tatgericht seine Überzeugungsbildung alleine auf dessen Zeugenaussage stütze, müsse es die Bedienungsanleitung nicht beiziehen, wenn sich aus der Aussage keine begründeten Zweifel ergäben, die die Beiziehung zu Beweiszwecken notwendig erscheinen lasse (Beschluss vom 12.4.2013 – 2 Ss-OWi 173/13 -, Juris Rn. 7).

In einer weiteren Entscheidung hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main ein Recht auf Einsicht in die sogenannte „Lebensakte“ oder in diejenigen Unterlagen, die Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe in das Messgerät zum Gegenstand haben, verneint. Die Behörden seien – jedenfalls in Hessen – nicht verpflichtet, eine „Lebensakte“ zu führen, so dass diese in der Regel gar nicht existiere. § 31 Mess-EG sehe eine Aufbewahrungspflicht bei Reparaturen und Wartungen nicht geeichter Geräte vor, für geeichte Messgeräte müssten keine solchen Bescheinigungen vorgehalten werden. Reparaturen ohne Brechen des Eichsiegels seien nicht denkbar. Es bestehe auch kein Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die Falldaten der gesamten Messreihe. Diese seien weder mittelbares noch unmittelbares Beweismittel im Verfahren und der Verteidiger müsse – gegenüber der Verwaltungsbehörde, gegen die ein Einsichtsgesuch zu richten sei – tatsachenfundiert vortragen, warum er die gesamte Messreihe benötige und dabei in die grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte Dritter eingreifen wolle. Die bloße Behauptung eines Privatgutachters, diese Daten zur Überprüfung des vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoßes zu benötigen, reiche nicht aus (Beschluss vom 26.8.2016 – 2 Ss-OWi 589/16 -, Juris).

(2) Das Oberlandesgericht Celle hat in einem Beschluss vom 28. Juni 2017 einen Anspruch des Betroffenen gemäß § 147 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG auf Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung des Messgeräts abgelehnt, wenn diese nicht zu den Gerichtsakten gelangt sei, da er keinen Anspruch auf Aktenerweiterung habe. Einen Anspruch auf Einsicht in eine „Lebensakte“ könne es denknotwendig nur geben, wenn eine solche existiere. Abweichend von der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main bestehe zwar nach § 31 Abs. 4 Nr. 2 MessEG sowohl für geeichte wie auch für ungeeichte Messgeräte für den Zeitraum von drei Monaten nach Ablauf des Eichzeitraums eine Verpflichtung, Wartungs- und Reparaturunterlagen aufzubewahren. Nach Ablauf dieser Frist bestehe aber keine dauerhafte Aufbewahrungspflicht mehr. Rüge ein Betroffener die Ablehnung seines Antrags auf Einsichtnahme und Beiziehung oder Verlesung der sogenannten „Lebensakte“ oder von Reparatur- und Wartungsnachweisen, obwohl das Eichsiegel zum Messzeitpunkt unversehrt sowie zeitlich gültig gewesen sei und trotz der Mitteilung der Bußgeldbehörde, dass Reparatur- oder Wartungsnachweise nicht vorhanden seien, könne die Rüge nur dann Erfolg haben, wenn der Betroffene tatsachenfundiert vortrage, dass an dem Messgerät dennoch Reparatur- oder Wartungsmaßnahmen durchgeführt worden seien (Beschluss vom 28.6.2017 – 2 Ss (OWi) 146/17 -, Juris).

(3) Das Oberlandesgericht Bamberg vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass ein Recht auf Einsichtnahme in die der Messung zugrundeliegenden Unterlagen und Daten nicht bestehe. Die „Lebensakte“ sei nicht Bestandteil der Gerichtsakte und daher nicht vom Akteneinsichtsrecht des Betroffenen umfasst. Es verstoße auch nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren oder rechtliches Gehör, wenn das Gericht dem Betroffenen die Einsicht in die Messdaten verweigere, wenn es sich aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt habe, dass die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens eingehalten wurden (Beschlüsse vom 5.9.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 – [kein Anspruch auf Überlassung der Rohmessdaten]; vom 24.8.2017 – 3 Ss OWi 1162/17 – [kein Anspruch auf Einsichtnahme in die digitale Messdatei, in die Statistikdatei und auf Überlassung von Rohmessdaten]; vom 4.10.2017 – 3 Ss OWi 1232/17 – [kein Anspruch auf Einsicht in die Lebensakte bei einer Abstandsmessung]; jeweils Juris).

cc) Hingegen haben in den letzten Jahren vor dem hier streitgegenständlichen Beschluss mehrere andere Oberlandesgerichte, namentlich die Oberlandesgerichte Naumburg (1) und Jena (2) sowie das Brandenburgische Oberlandesgericht (3), die Ablehnung entsprechender Beweisanträge als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beanstandet. Nach einem Grundsatz der „Waffengleichheit“ sei es geboten, dem Betroffenen durch Beiziehung aller von ihm für erforderlich gehaltenen Unterlagen einen Überblick über die Tatsachengrundlage zu verschaffen und ihn so in die Lage zu versetzen, die Messergebnisse durch einen privaten Sachverständigen überprüfen zu lassen oder entsprechende Beweisanträge in der Hauptverhandlung zu stellen. Dies gelte auch in Fällen, in denen das Gericht nach sorgfältiger Prüfung des Sachverhalts mangels konkreter Anhaltspunkte für etwaige Messfehler keinen Anlass für weitere Beweiserhebungen sehe.

(1) Das Oberlandesgericht Naumburg hat ein Recht des Verteidigers auf Einsicht in alle Unterlagen bejaht, die auch einem Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden, konkret die Bedienungsanleitung des Messgeräts. Dies folge „schon aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (Art. 6 EMRK), der Stellung des Rechtsanwaltes als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) und dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit“. Zwischen dem Betroffenen und der Ermittlungsbehörde „wäre keine Waffengleichheit gegeben, wenn die Ermittlungsbehörde einen Wissensvorsprung dadurch erlangt, dass sie maßgebliche Unterlagen zurückhält und dem Betroffenen deren Kenntnisnahme verweigert“ (Beschluss vom 5.11.2012 – 2 Ss (Bz) 100/12 -, Juris Rn. 8).

(2) Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Jena müsse die Einhaltung der für das standardisierte Messverfahren maßgeblichen Vorgaben des Geräteherstellers und der ordnungsgemäßen Funktion des Gerätes zwar grundsätzlich nur dann aufgeklärt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel hieran begründeten. Habe der Betroffene aber bereits bei der Verwaltungsbehörde erfolglos Einsicht in die „Lebensakte“ des Messgeräts beantragt und stelle er sodann einen entsprechenden Antrag in der Hauptverhandlung, sei diesem nachzugehen. Die Verwaltungsbehörde habe dem Betroffenen insoweit den Zugang zu tatvorwurfrelevanten Informationen verwehrt, dies müsse das Gericht nachholen. Andernfalls verletze es seine Amtsaufklärungspflicht und das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren (Beschluss vom 1.3.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15 -, Juris Rn. 15 ff.).

(3) Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat in Anlehnung an den Beschluss des Oberlandesgerichts Jena aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ebenfalls die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde abgeleitet, dem Betroffenen die gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG aufzubewahrenden Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät zugänglich zu machen. Mit ihrer hiergegen verstoßenden Weigerung habe die Verwaltungsbehörde der Verteidigung die Möglichkeit genommen, konkrete Anhaltspunkte für eine der Gültigkeit der Eichung entgegenstehende Reparatur oder einen sonstigen Eingriff in das Messgerät aufzufinden (Beschluss vom 8.9.2016 – (2 Z) 53 Ss-OWi 343/16 (163/16) -, Juris Rn. 12 ff.). Erst dann könne der Betroffene überhaupt Entscheidungserhebliches vortragen (Juris Rn. 7).

dd) Zeitlich nach dem hier angegriffenen Beschluss sind noch weitere widerstreitende Entscheidungen ergangen, die der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe bei seiner Beurteilung der Divergenzfrage nicht berücksichtigen konnte, die jedoch das Fortbestehen ihrer Entscheidungserheblichkeit verdeutlichen.

(1) So hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe es als Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren angesehen, dass dem Betroffenen auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötige, zur Verfügung zu stellen seien. Dazu gehöre auch die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts (Beschluss vom 12.1.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 -, Juris Rn. 13).

Hieran anknüpfend hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe im Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 -, Juris (unter konkludenter Abkehr von der im angegriffenen Beschluss vertretenen Auffassung bei zugleich ausdrücklicher Ablehnung einer Vorlage an den Bundesgerichtshof) ein aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgendes Recht des Betroffenen angenommen, nicht bei der Akte befindliche amtliche Messunterlagen zur Herstellung der „Parität des Wissens“ zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dem hat sich das Oberlandesgericht Stuttgart im Beschluss vom 19. September 2019 (1 Rb 28 Ss 300/19, Juris) angeschlossen.

(2) Auch der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat sich, ohne dass dies für die Anwendung von § 121 Abs. 2 GVG unmittelbar maßgeblich sein könnte, in zwei Entscheidungen zur hiesigen Problematik geäußert. In seinem Beschluss vom 27. April 2018 (Lv 1/18, Juris) hat er entschieden, die Ablehnung der Herausgabe von Messunterlagen (im Einzelnen: lesbare Falldatei, Statistikdatei) verletze das Gehörsrecht und das Recht auf ein faires Verfahren, da dem Betroffenen dadurch die Erfüllung seiner „Beibringungs- und Darlegungslast“ (Rn. 16) unmöglich gemacht werde. Auch die Ablehnung eines in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens verletze den Betroffenen in seinen Grundrechten. Denn es sei „willkürlich und unfair“ und begründe einen Gehörsverstoß, wenn „nach Nichtzugänglichmachung der Messdaten – in dieser Situation – der Beweisantrag […] mit der Begründung abgelehnt wird, es liege ein standardisiertes Verfahren vor, und damit ausdrücklich oder stillschweigend dem Beschwerdeführer oder der Verteidigung vorgeworfen wird, es seien keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler dargelegt worden. Eine solche Darlegung wäre nämlich erst nach Einsicht in die Messdaten möglich gewesen“ (Rn. 51). Diese Auffassung hat der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes in einem Beschluss vom 5. Juli 2019 (Lv 7/17, Juris) bekräftigt und vertieft. Als Maßstab hat er dabei namentlich die in der saarländischen Landesverfassung enthaltene Gewährleistung einer wirksamen Verteidigung (Art. 14 Abs. 3 SVerf: Jedermann hat in einem Verfahren vor einer Behörde grundsätzlich das Recht, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen.) herangezogen. Diese gebiete es, dass der Verteidiger eines von einem Straf- oder Bußgeldverfahren Betroffenen nicht nur die Möglichkeit haben müsse, sich mit den rechtlichen Grundlagen des gegen seinen Mandanten erhobenen Vorwurfs auseinanderzusetzen, sondern auch dessen tatsächliche Grundlagen prüfen zu dürfen. Es sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, wenn eine Messung einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen – etwa aufgrund der automatischen Löschung der sog. Rohmessdaten – nicht zugänglich sei und verletze den Betroffenen in seinem Recht auf ein faires Verfahren sowie auf wirksame Verteidigung.

Die Verfassungsgerichte anderer Länder haben sich noch nicht inhaltlich mit der aufgeworfenen Rechtsfrage auseinandergesetzt. Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (Beschluss vom 23.1.2020 – Vf. 96-IV-19 -, Juris) und der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 31.3.2020 – 14/20.VB-1 -, Juris) haben entsprechende Verfassungsbeschwerden mangels hinreichender Substantiierung verworfen. Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 15. Januar 2020 (VGH B 19/19, Juris) eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Rechte auf effektiven Rechtsschutz sowie den gesetzlichen Richter für begründet erklärt, weil das Oberlandesgericht Koblenz die Rechtsbeschwerde trotz der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht zum Zwecke der Divergenzvorlage gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 OWiG zugelassen hatte. Der Beschwerdeführer war zuvor wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 120,00 Euro verurteilt worden; seine Anträge auf Einsicht in nicht bei der Akte befindliche Unterlagen, insbesondere die Bedienungsanleitung des Messgeräts, waren erfolglos geblieben.

(3) Die Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs des Saarlands sind in Entscheidungen mehrerer Oberlandesgerichte mit gegenläufigen Ergebnissen erörtert worden. Während etwa das Oberlandesgericht Bamberg in Übereinstimmung mit dem Bayerischen Obersten Landesgericht an seiner gefestigten Rechtsprechung festhält (a), haben die Oberlandesgerichte Düsseldorf (b) und Hamm (c) zwischenzeitlich ihre Rechtsprechung geändert.

(a) Das Oberlandesgericht Bamberg hat mit Bezug auf die Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs in seinem Beschluss vom 13. Juni 2018 (3 Ss OWi 626/18 -, Juris) ausgeführt, das Recht auf ein faires Verfahren diene dem Betroffenen zur Beteiligung an der Sachaufklärung, verfolge aber keinen Selbstzweck. Ein Betroffener könne daraus insbesondere nicht ableiten, dass die Gerichte jedwedem Begehren der Verteidigung, erscheine es aus ihrer Sicht auch sinnvoll, nachzukommen hätten.

Es entspreche gefestigter höchstrichterlicher und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, dass ein Antrag, der auf Beiziehung von außerhalb der Akten befindlichen Unterlagen gerichtet sei, nicht den Grundsatz des fairen Verfahrens berühre. Vielmehr handle es sich dabei um einen Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) gerügt werden könne. Dem Grundsatz des fairen Verfahrens komme nicht die Funktion zu, der Verteidigung losgelöst von der Sachaufklärung Instrumentarien für ein erfolgreiches Rechtsmittelverfahren zur Verfügung zu stellen, worauf die Gegenansicht, die in der Ablehnung eines Antrags auf Beiziehung entsprechender Unterlagen a priori einen Verstoß gegen das faire Verfahren annehme, aber hinauslaufe. Es stehe dem Betroffenen frei, durch Beweisanträge, Beweisanregungen oder Beweisermittlungsanträge und sein Fragerecht in der Hauptverhandlung aktiv gestaltend an der Sachaufklärung mitzuwirken. Durch diese Rechte sei er in rechtsstaatlich ausreichendem Maße in die Lage versetzt, an der Sachaufklärung mitzuwirken und dabei insbesondere auch zur Herbeischaffung entlastender Umstände beizutragen. Die Einräumung eines von diesen Verfahrensgarantien und der Sachaufklärung unabhängigen Rechts auf Herbeischaffung jedweder Unterlagen, denen potentiell Beweisbedeutung zukommen könne, sei zur sachgerechten Verteidigung weder geboten noch mit dem Prinzip eines effektiven, an prozessökonomischen Gesichtspunkten zu orientierenden Verfahrens in Einklang zu bringen.

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat sich dieser Auffassung mit Beschlüssen vom 9. Dezember 2019 (202 ObOWi 1955/19, Juris) und vom 6. April 2020 (201 ObOWi 291/20, Juris) angeschlossen. Die Beiziehung von nicht bei der Akte befindlichen Unterlagen sei allein anhand von Aufklärungsgesichtspunkten zu prüfen.

(b) Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat hingegen seine Rechtsprechung im Anschluss an die Judikatur des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs geändert. Im Beschluss vom 22. Juli 2015 (IV-2 RBs 63/15 -, Juris) hatte es noch die Auffassung vertreten, es ergebe sich weder aus § 147 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG noch aus dem Gebot des fairen Verfahrens ein Recht des Betroffenen auf Einsicht in die bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Daten der Geschwindigkeitsmessungen des Tattages, die lediglich andere Verkehrsteilnehmer betreffen, sowie auf Überlassung dieser Daten zur eigenen Auswertung. Im Beschluss vom 10. März 2020 (IV-2 RBs 30/20 -, Juris) ist es nun davon ausgegangen, dass ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens unter dem Gesichtspunkt der „Parität des Wissens“ in Betracht komme, wenn in einem verkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren nicht bei den Akten befindliche, jedoch bei der Verfolgungsbehörde vorhandene Informationen zu der erfolgten Messung mit einem standardisierten Messverfahren dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger nicht zur Verfügung gestellt würden, auch wenn das Gericht diese Informationen für unerheblich halte (Juris Rn. 17).

(c) Das Oberlandesgericht Hamm hatte zuvor ebenfalls angenommen, das Gericht müsse bei einem standardisierten Messverfahren nur dann Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Messung nachgehen, wenn sie sich aus den äußeren Umständen ergäben. Die Prüfung, ob derartige Anhaltspunkte gegeben seien, könne logischerweise nicht auf eine Verpflichtung hinauslaufen, die Messdatei von einem Sachverständigen überprüfen zu lassen. Anderenfalls werde das standardisierte Messverfahren, das den Tatrichter gerade davon entbinden solle, die Messdatei in jedem Einzelfall auf etwaige Fehlerquellen durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen, ad absurdum geführt (Beschluss vom 10.3.2017 – 2 RBs 202/16 -, Juris Rn. 19). Diese Auffassung hat das Oberlandesgericht Hamm zwischenzeitlich aufgegeben und mit Beschluss vom 3.1.2019 (III-4 RBs 377/18 -, Juris) einen Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die – nicht bei der Akte befindlichen – Rohmessdaten anerkannt. Dieser Anspruch sei zunächst gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend zu machen, im Falle der Verweigerung auch gerichtlich durchzusetzen.

c) Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bot somit zum – hier maßgeblichen – Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe ein uneinheitliches Bild, das dem Grunde nach bis heute fortbesteht. Während ein Teil der Oberlandesgerichte an der Auffassung festhält, dass ein Betroffener keinen Anspruch auf Beiziehung von und Einsichtnahme in nicht bei der Gerichtsakte befindliche Unterlagen und Daten habe, leiten andere Oberlandesgerichte einen solchen Anspruch aus dem Recht auf ein faires Verfahren her. Das Oberlandesgericht Karlsruhe konnte es daher kaum vermeiden, mit seiner Entscheidung von vorausgegangenen Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte abzuweichen.

d) Das Oberlandesgericht Karlsruhe hätte sich in dieser Situation mit der Frage einer Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 OWiG auseinandersetzen müssen. Zum Zwecke einer Entscheidung hierüber hätte es zugleich die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zulassen müssen. Stattdessen hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in seinen Beschlüssen vom 5. September 2017 sowie vom 22. September 2017 eine Pflicht zur Divergenzvorlage ohne hinreichende Prüfung verneint.

Zwar hat das Oberlandesgericht Karlsruhe auf die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers in seinem zurückweisenden Beschluss vom 22. September 2017 ausgeführt, es habe nach Prüfung der Rügen über die nicht erfolgte Herausgabe von und Einsicht in Unterlagen keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Prozessgrundrechte einschließlich Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d EMRK gefunden. Im Rahmen seiner Prüfung, ob sich im Hinblick auf Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte oder des Bundesgerichtshofs eine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG ergeben könnte, habe das Gericht insbesondere auch die in der Rügeschrift vom 11. September 2017 angeführten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs sowie der Oberlandesgerichte Oldenburg, Jena, Brandenburg, Celle, Naumburg, Stuttgart und Hamm geprüft. Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers und unter Beachtung des Gebots des gesetzlichen Richters sei dem Gericht eine solche Verpflichtung zur Vorlage als nicht naheliegend erschienen, weshalb es auch von der Begründung der nicht erfolgten Vorlage abgesehen habe. Über die bloße Benennung dieser Entscheidungen hinaus hat sich das Oberlandesgericht Karlsruhe jedoch nicht mit diesen Entscheidungen auseinandergesetzt und auch nicht näher ausgeführt, weshalb es keine entscheidungserhebliche Divergenz angenommen hat. Insbesondere hat das Gericht nicht erläutert, ob und inwiefern sich die von den anderen Oberlandesgerichten zu beurteilenden Sachverhalte vom streitgegenständlichen Fall unterschieden. Auch hat es nicht dargelegt, ob und inwiefern es sich bei seiner Entscheidung möglicherweise in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gesehen hat, zumal dieser die hiesige Fragestellung bislang nicht erschöpfend geklärt hat. Die Begründung des Beschlusses vom 22. September 2017 zeigt somit, dass das Oberlandesgericht Karlsruhe seine mögliche Verpflichtung zur Vorlage des Verfahrens an den Bundesgerichtshof zwar erkannt und geprüft hat. Die konkrete Handhabung der Vorlagepflicht ist jedoch objektiv nicht mehr nachvollziehbar.

Eine solche Anwendung der Vorschriften zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) zum Zwecke einer anschließenden Vorlage an den Bundesgerichtshof (§ 121 Abs. 2 GVG) verletzt die Garantie effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht des Betroffenen auf den gesetzlichen Richter.

III.

Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der festgestellten Verfassungsverstöße Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung über die Rügen der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren sowie das allgemeine Willkürverbot.

IV.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. September 2017 ist gemäß § 59 Abs. 1 Satz 3 VerfGHG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 22. September 2017 über die Anhörungsrüge wird dadurch gegenstandslos.

C.

Mit der Aufhebung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. September 2017 ist der Rechtsweg gegen das Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 10. April 2017 wieder eröffnet und die Verfassungsbeschwerde, soweit sie gegen das Urteil gerichtet ist, unzulässig geworden.

D.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 60 Abs. 3 VerfGHG.