Während das OLG Koblenz ein Einsichtsrecht in Messdaten verneint, sieht man es beim AG Koblenz anders herum. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergebe sich ein Recht auf Überlassung von allen Datensätzen der Messreihe in anonymisierter Form inkl. Statistik, Beschilderungsplan, verkehrsrechtlicher Anordnung, Gebrauchsanweisung sowie Unterlagen aus dem Konformitätsbewertungsverfahren. Abgelehnt wurde der Antrag nur in Bezug auf die “Lebensakte” und vergleichbare Unterlagen.

AG Koblenz, Beschluss vom 20.12.2019 – 34 OWi 2010 Js 56667/19

Der Verwaltungsbehörde wird aufgegeben, der Betroffenen über ihre Verteidigerin folgende Unterlagen, Daten und Informationen gegen Überlassung eines Datenträgers zukommen zu lassen soweit tatsächlich vorhanden oder von anderen Behörden beiziehbar:

o digitale Falldatensätze der gesamten Messreihe
o Statistikdatei mit Case-List
o Beschilderungsplan bzw. verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung
o Konformitätsbescheinigung und Konformitätserklärung zum Messgerät
o Aufbau- bzw. Einbauvorschriften der Firma Vitronic für das Messgerät Poliscan Fm1 bei Verwendung in einem Trailer

Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

Gründe:

I.

Das Polizeipräsidium Rheinpfalz hat unter dem Aktenzeichen … eine Ordnungswidrigkeit (Geschwindigkeitsüberschreitung) festgestellt, welche sie der Betroffenen vorwirft. Im Laufe des Verwaltungsverfahrens hat die Verteidigerin der Betroffenen Akteneinsicht begehrt und diese teilweise erhalten.

Die Verteidigerin macht für die Betroffene ergänzend geltend, dass sie für eine Überprüfung der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung auf die gesamte seinerzeit gefertigte digitale Messdatei, die Statistikdatei mit Case-List, den Beschilderungsplan bzw. die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung, die Konformitätsbescheinigung und Konformitätserklärung zum Messgerät, die Aufbau- bzw. Einbauvorschriften der Firma Vitronic für das Messgerät Poliscan Fm1 bei Verwendung in einem Trailer und die Lebensakte/Begleitkarte des verwendeten Messgeräts, hilfsweise auf die vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen angewiesen sei, da sie diese für eine ordnungsgemäße Verteidigung benötige.

II.

Die Verwaltungsbehörde hat dem Verteidiger des Betroffenen die in dem Tenor genannten Daten, Unterlagen und Informationen zur Verfügung zu stellen.

Zwar folgt ein solcher Anspruch nicht aus § 147 StPO, da sich jenes Recht nur auf Unterlagen bezieht, welche sich in den Akten befinden.

§ 147 Abs. 1 StPO gibt keinen Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes, vgl. etwa BVerfGE 63,45 m.w.N.

Allerdings ergibt sich die Grundlage für das Einsichtsbegehren des Verteidigers aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens, das allgemein im Strafprozessrecht und damit auch Im Bußgeldrecht gilt Es hängt nicht davon ab, ob der Verteidiger konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vortragen kann. Auf eine mögliche Beiziehung des Films erst im gerichtlichen Verfahren muss er sich nicht verweisen lassen. Der Betroffene muss vielmehr bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugriff auf Messdaten und Messunterlagen – ggf. auch mit Hilfe eines privat hinzugezogenen und von ihm mit den notwendigen Anknüpfungstatsachen ausgestatteten Sachverständigen – die konkreten Anhaltspunkte erst einmal ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann. Ein Betroffener oder ein Verteidiger ist im Bußgeldverfahren gehalten, die Richtigkeit der Messung durch Benennung konkreter Anhaltspunkte, sofern solche gegeben sind, in Zweifel zu ziehen, und dies nicht lediglich pauschal zu tun. Erst wenn ihm das gelingt, bedarf es einer gerichtlichen Beweisaufnahme darüber, ob im konkreten Fall tatsächlich eine richtige Messung stattgefunden hat, die den Bußgeldvorwurf begründet; ansonsten werden entsprechende Anträge oder Beweisanregungen des Verteidigers als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich zurückgewiesen.

Dies bedeutet dann aber, dass der Betroffene bzw. sein Verteidiger in die Lage versetzt werden müssen, konkrete, die Amtsaufklärungspflicht auslösende Anhaltspunkte für Messfehler vorzutragen. Hierfür aber wiederum benötigt er zwangsläufig den Zugang zu den Messunterlagen, Messdaten und Informationen. Erst die Auswertung dieser Daten versetzt den Betroffenen in die Lage zu entsprechendem, konkretem Sachvortrag.

Ohne das Zurverfügungstellen der bezeichneten Daten wäre zwischen Betroffenen und der Ermittlungsbehörde überdies keine Waffengleichheit gegeben, da die Ermittlungsbehörde einen Wissensvorsprung dadurch erlangen würde, dass sie maßgebliche Unterlagen – über die sie verfügt – zurückhält und dem Betroffenen deren Kenntnisnahme verweigert, vgl. OLG Naumburg, Beschluss vom 05.11.2012, 2 Ss (Bz) 100/12.

Datenschutzrechtliche Bedenken ist insoweit Rechnung zu tragen, als dass der Messfilm nur in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt werden muss.

Der Antrag auf Überlassung der Lebensakte war abzuweisen.

Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät können nur dann beigezogen werden, wenn es solche- gibt. Zum Vortrag bei einem gleichwohl auf Beiziehung gerichteten Beweisantrag gehört daher grundsätzlich das Wissen um die Existenz einer solchen Dokumentation. Nur so kann das Gericht überhaupt prüfen, ob die behaupteten Dokumente Relevanz für das Verfahren haben können. Dabei gilt auch hier, dass die bloße Behauptung den dazu notwendigen Tatsachenvortrag nicht ersetzt. Vorliegend scheitert der notwendige Tatsachenvortrag bereits daran, dass es zumindest in Rheinland-Pfalz keine Akten mit Wartungsnachweisen (sog … Lebensakte”) eines Messgerätes gibt (s. auch OLG Koblenz, Beschluss vom 24.05.2017 1 Owi 4 SsBs 35/17).

Eine Verpflichtung hierzu besteht bei geeichten Messgeräten nicht. Vielmehr erfolgt nach einer etwaigen Instandsetzung oder einem anderweitigen Eingriff in das Gerät unmittelbar eine Neueichung, so dass nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG keine Aufbewahrungspflicht besteht (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2016, 320; s. auch Br-Drucks. 17/12727, S. 46). Auch in tatsächlicher Hinsicht besteht kein Bedarf, eine zeitüberdauernde Dokumentation über vergangene Maßnahmen an bestimmten Messgeräten und ihren Zustand vorzuhalten (vgl. die öffentlich einsehbare Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vom 31.05.2016).

Sie sind im Übrigen jedenfalls keine geeigneten Beweismittel, um tatsachenbegründete Zweifel an der Messrichtigkeit und Messbeständigkeit eines geeichten Messgerätes wecken zu können. Eine Reparatur kann ohne Brechung der Eichsiegel nicht erfolgen. Selbst wenn es zu Reparaturen gekommen wäre, müssen die Geräte vor erneuter Inbetriebnahme neu geeicht werden. Die Eichämter bestätigen durch die Eichung und Siegelung die Messrichtigkeit und Messbeständigkeit des Geräts.

Vielen Dank an Frau Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Bous, für die Zusendung dieser Entscheidung.