Erneut führte das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes dazu, dass das OLG Saarbrücken eine Bußgeldsache gemäß § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt hat. Hier ging es um eine Geschwindigkeitsmessung mittels des Infrarotmessgeräts Leivtec XV3, bei dem ebenfalls seit Längerem gerügt wird, dass es mit seiner aktuellen Software-Version 2.0 – anders als noch in der Version 1.0 – keine Rohmessdaten mehr speichert. Das OLG hat keinen Zweifel daran, dass eine erneute Verfassungsbeschwerde auch in vorliegendem Fall hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte und sieht daher eine Ahndung des Verstoßes als nicht geboten an. Bei zukünftigen Fällen werde das Amtsgericht zu klären haben, ob die verwendete Messtechnik den Anforderungen des Verfassugsgerichtshofs genügt.

OLG Saarbrücken, Beschluss vom 30.08.2019 – Ss Bs 46/2019 (44/19 OWi)

In der Bußgeldsache
gegen …, geboren am … in …,
wohnhaft …

w e g e n Verkehrsordnungswidrigkeit

Verteidigerin: Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Bous

hat der Bußgeldsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts in Saarbrücken am 30. August 2019 gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG durch den Richter am Oberlandesgericht Wiesen als Einzelrichter mit Zustimmung der Generalstaatsanwaltschaft und nach Anhörung der Verteidigerin  b e s c h l o s s e n:

1. Das Verfahren wird gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG  e i n g e s t e l l t.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Landeskasse.

Gründe:

I.

Mit Urteil vom 14. Mai 2019 hat das Amtsgericht St. Ingbert gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 53 km/h eine Geldbuße in Höhe von 300,– € festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Unter anderem macht er – was bereits gegenüber dem Amtsgericht vorgetragen wurde – geltend, dass das bei der Geschwindigkeitsmessung verwendete Messgerät Leivtec XV3 die Rohmessdaten nicht speichere, weshalb eine nachträgliche Überprüfung des Messergebnisses auf seine Richtigkeit nicht möglich sei und er in seinem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt sei.

II.

Die zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Einstellung des Verfahrens, da eine Ahndung der dem Betroffenen zur Last gelegten Ordnungswidrigkeit aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit nicht geboten ist.

1. Die nach § 47 Abs. 2 OWiG in jeder Lage des Verfahrens, also auch noch im Verfahren über die Rechtsbeschwerde (vgl. Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 17. Aufl., § 47 Rn. 41 m.w.N.) zulässige Einstellung des Verfahrens ist jedenfalls dann geboten, wenn mit der Rechtsbeschwerde die Verletzung von Grundrechten gerügt wird und diese Rüge mit einer Verfassungsbeschwerde hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte (vgl. Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 47 Rn. 41; vgl. auch BayObLG NZV 1996, 44 f.). § 47 Abs. 2 OWiG gibt den Fachgerichten in einem solchen Fall die Möglichkeit, aus prozesswirtschaftlichen Gründen korrigierend einzugreifen, um weitere Verfahren vor einem Verfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden (vgl. Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O.).

2. Von einer solchen Sachlage ist hier beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens auszugehen.

a) Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat mit Urteil vom 5. Juli 2019 (Az.: Lv 7/17) auf die Verfassungsbeschwerde eines Betroffenen hin in einem eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät TraffiStar S350 der Firma Jenoptik betreffenden Fall den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. Juni 2017 (Ss Rs 22/2017 (40/17 OWi) und das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 28. März 2017 (22 OWi 859/16) aufgehoben, da diese Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf ein faires Verfahren aus Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 SVerf und auf wirksame Verteidigung aus Art. 14 Abs. 3 SVerf verletzten. Zur Begründung hat der Verfassungsgerichtshof im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Geschwindigkeitsmessgerät TraffiStar S350 der Firma Jenoptik zwar ein standardisiertes Messverfahren darstelle und die in einem solchen Verfahren gewonnenen Ergebnisse daher einer Verurteilung grundsätzlich als tragend zugrunde gelegt werden könnten. Davon unberührt bleibe aber die Beachtung der verfahrensrechtlichen Grundrechte. Fehle es – wie bei dem Geschwindigkeitsmessgerät TraffiStar S350 der Firma Jenoptik, das Rohmessdaten, ohne dass es hierfür zwingende Gründe gebe, nicht speichere und daher nicht erlaube, “das Ergebnis eines Messvorgangs nachzuvollziehen” – an Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang, so fehle es an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener- selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wende und ein Fehlen von Rohmessdaten rüge. Zudem hat der Verfassungsgerichtshof in dem vorgenannten Urteil darauf hingewiesen, dass er in gleich gelagerten Fällen von seiner Entscheidung abweichende Entscheidungen saarländischer Instanzgerichte korrigieren werde.

b) Zwar liegt der dem Betroffenen im vorliegenden Verfahren zur Last gelegten Geschwindigkeitsüberschreitung – anders als in dem dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 (Az.: Lv 7/17) zugrunde liegenden Fall keine Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät Traffi8tar S350 der Firma Jenoptik, sondern eine solche mit dem Geschwindigkeitsmessgerät Leivtec XV3 zugrunde. Der Betroffene wendet sich jedoch unter anderem mit der Behauptung, auch dieses Messgerät speichere die Rohmessdaten des konkreten Messvorgangs nicht, gegen das Messergebnis. Ob diese Behauptung zutrifft, hat das Amtsgericht indes nicht festgestellt, sondern in dem angefochtenen Urteil offen gelassen und ausgeführt, daraus, dass möglicherweise durch die Softwareversion und die die damit verbundene Löschung von Rohmessdaten eine Plausibilitätsprüfung nicht möglich sei, folge kein Beweisverwertungsverbot im Hinblick darauf, dass sich das Amtsgericht mit dieser Auffassung im Einklang mit der insoweit ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung befindet (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 17.05.2017- 2 Ss OWi 93/17; OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.05.2018 – 4 Rb 16 Ss 380/18) und das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 (Az.: Lv 7/17) zum Zeitpunkt der Entscheidung des Amtsgerichts noch nicht ergangen war, sieht der Senat eine Aufhebung des angefochtenen Urteils und eine Zurückverweisung zwecks Klärung, ob auch das vorliegend verwendete Messgerät Leivtec XV3 keine Rohmessdaten speichert und deshalb eine nachträgliche Überprüfung des Messergebnisses auf seine Richtigkeit hin nicht möglich ist, als nicht sachgerecht an. Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, dass eine Verfassungsbeschwerde des Betroffenen zum Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte, wenn auch der Senat die Frage, ob auch das Geschwindigkeitsmessgerät Leivtec XV3 keine Rohmessdaten speichert, offen ließe und die Rechtsbeschwerde als unbegründet verwerfen würde, sich im Verfassungsbeschwerdeverfahren aber herausstellte, dass eine solche Speicherung nicht erfolgt.

3. Allerdings wird das Amtsgericht diese Frage in künftigen, nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 (Az.: Lv 7/17) zu entscheidenden Fällen zu klären haben. Denn jenes Urteil entfaltet gemäß § 10 Abs. 1 VerfGHG über den entschiedenen Einzelfall hinaus Bindungswirkung insofern, als die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung des Saarlandes von allen saarländischen Gerichten und Verwaltungsbehörden beachtet werden müssen (vgl. zu § 31 Abs. 1 BVerfGG: BVerfGE 40, 88, 93 f.; BVerfG, Beschl. v. 08.09.2010 – 2 BvL 3/10, juris). Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 entfaltet daher über den Einzelfall hinaus insoweit Bindungswirkung für alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden, als eine Verletzung der Grundrechte auf ein faires Verfahren gemäß Art. 60 Abs. 1 i. V. mit Art. 20 SVerf und auf wirksame Verteidigung gemäß Art. 14 Abs. 3 SVerf dann anzunehmen ist, wenn es bei einer Geschwindigkeitsmessung an Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang fehlt und sich ein Betroffener – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt.

Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten und notwendigen Auslagen des Betroffenen beruht auf § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Von der Ausnahmeregelung des § 467 Abs. 4 StPO, wonach im Falle der Einstellung des Verfahrens nach richterlichem Ermessen davon abgesehen werden kann, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse aufzuerlegen, macht der Senat keinen Gebrauch, da die Ordnungswidrigkeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht prozessordnungsgemäß erwiesen ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 2. März 2009 – Ss (B) 18/2009 (22/09) -, 18. September 2009 – Ss (Z) 218/2009 (94/09) – und vom 25. Januar 2018 – Ss Bs 111/2017 (76/17 OWi) -; Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 47 Rn. 48).

Vielen Dank an Frau Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Bous, für die Zusendung der Entscheidung.