In der Vergangenheit sah das OLG Koblenz eine Einsichtnahme in Wartungsunterlagen als nicht erforderlich an und verneinte zudem regelmäßig die Existenz von Lebensakten in Rheinland-Pfalz. Nach der Entscheidung des VerfGH Koblenz aus dem Dezember gibt das OLG seine frühere Rechtsprechung auf und einer auf die Verweigerung der Einsichtsgewährung gestützten Rechtsbeschwerde statt.

OLG Koblenz, Beschluss vom 13.01.2022 – 2 OWi 32 SsBs 310/21

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Trier vom 29. Oktober 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Trier hat den Betroffenen wegen einer am 23. September 2020 als Führer eines Personenkraftwagens außerhalb geschlossener Ortschaften begangenen vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 42 km/h zu einer Geldbuße von 320,00 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt. Ferner ordnete es an, dass das Fahrverbot erst wirksam wird, wenn der Führerschein in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten seit Eintritt der Rechtskraft.

Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen Rechts, insbesondere die verweigerte Einsicht in vorhandene Messunterlagen einschließlich der das eingesetzte Messgerät PoliScan M1 mit der Softwareversion 3.7.4 betreffenden Wartungsunterlagen. Daneben rügt er die Verletzung materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Votum vom 23. Dezember 2021 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts Trier vom 29. Oktober 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen. Der Verteidiger hat von der ihm eingeräumten Möglichkeit der Stellungnahme zum Votum der Generalstaatsanwaltschaft keinen Gebrauch gemacht.

II.

Die zulässige Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache – zumindest vorläufigen – Erfolg.

Auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge betreffend der beantragten Herausgabe von Wartungsunterlagen war das Urteil aufzuheben. Der Betroffene hat die Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren den Anforderungen des§ 80 Abs. 3 S. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechend begründet.

Das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; Art 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV sowie Art. 6 EMRK wurde verletzt. Das Recht auf ein faires Verfahren sichert dem Betroffenen, der im Rechtsstaat nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, den erforderlichen Bestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen (zum Ganzen VerfGH RhPf, VGH B 46/21 v. 13.12.2021, juris; vgl. BVerfG, 2 BvR 462/77 v. 19.10.1977, BVerfGE 46, 202; 2 BvR 215/81 v. 26.05.1981, BVerfGE 57, 250). Das Recht auf ein faires Verfahren enthält keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote, weshalb es der Konkretisierung bedarf (BVerfG, 2 BvR 1616/18 v. 12.11.2020, juris). Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich der Anspruch des Betroffenen, aus Gründen der „Waffengleichheit” Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden (VerfGH RhPf, a.a.O.; BVerfG, 2 BvR 1616/18 v. 12.11.2020, juris). Zwar gilt dieser Anspruch nicht unbegrenzt. Jedoch besteht ein Anspruch auf Herausgabe der Reparatur- und Wartungsunterlagen seit dem der Messung vorausgehenden letzten Eichung des Messgerätes. Hierzu hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz mit Beschluss vom 12. Dezember 2021 (VerfGH RhPf, a.a.O. Rn. 55 f.) ausgeführt:

“Die Frage, welche Information zur Aufklärung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgerätes beitragen kann, lässt sich nicht abstrakt-generell beantworten, sondern ist abhängig von dem konkreten Dokument und dem Umfang der begehrten Einsichtnahme. Für die in Rede stehenden Wartungs- und Reparaturunterlagen stellt in zeitlicher Hinsicht der Eichzeitraum die maßgebliche Grenze für das berechtigte Informationsbegehren des Betroffenen dar (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27. April 2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20 –, juris Rn. 29; Krenberger, NZV 2021, 209 [210]). Reparaturen oder Wartungen vor der letzten Eichung weisen keinen Zusammenhang mit der konkreten Messung auf; sie sind durch die Eichung gleichsam überholt. Für diese Zeiten besteht daher noch nicht einmal eine theoretische Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Gerätes am Tage der streitgegenständlichen Messung zu erhalten. Etwas anderes gilt für den Zeitraum nach der letzten Eichung. Dabei kann dahinstehen, ob messrelevante Eingriffe in das Geschwindigkeitsmessgerät regelmäßig dessen Neueichung zur Folge haben und die im Messprotokoll vermerkte Unversehrtheit des Eichsiegels daher ein aussagekräftiges Indiz gegen zwischen der Eichung und der Messung vorgenommene Eingriffe darstellt (vgl. hierzu OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20 –, juris Rn. 64). Jedenfalls für die Zeit nach der konkreten Geschwindigkeitsmessung liegen vergleichbare Informationen nicht vor, weil das Messprotokoll keine Aussagen über in der Zukunft notwendig werdende Wartungen und Reparaturen treffen kann. Nicht ausreichend – weil nicht den gesamten maßgeblichen Zeitraum abdeckend – ist insoweit ein möglicher Hinweis des Messbeamten auf dem Messprotokoll, wonach seit Beginn der Eichfrist keine Reparaturen und Wartungen an dem Messgerät durchgeführt worden seien. Liegen demgegenüber keine Reparatur- und Wartungsunterlagen vor, weil nach der letzten Eichung und nach der streitgegenständlichen Messung keine Wartungen oder Reparaturen an dem Messgerät durchgeführt worden sind, kann von der Bußgeldbehörde schon faktisch lediglich eine Erklärung hierüber gefordert werden (vgl. auch Ropertz, NZV 2021, 500 [502]).

c) Auch wenn die Erwägungen des Beschwerdeführers in seinem Antrag auf Einsichtnahme in die Reparatur- und Wartungsunterlagen nur eine bloß theoretische Aufklärungschance zu begründen vermögen, ist ihre Eignung zur Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigung nach den vorstehenden Erwägungen nicht schlechthin ausgeschlossen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 57). Damit ist die von Verfassungs wegen geforderte Relevanz der seit der Eichung vorliegenden Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für die Verteidigung zu bejahen. Für eine restriktivere Handhabung des Einsichtsrechts in vorhandene Unterlagen – etwa die Forderung, die Relevanz der begehrten Information müsse „auf der Hand liegen“ (so OLG Zweibrücken, Beschluss vom 4. Mai 2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 –, juris Rn. 12) – ist mit Blick auf Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV kein Raum. Eine solche Einschränkung würde den unterschiedlichen Anforderungen nicht gerecht, die die Verfassung an die Amtsermittlung der Gerichte einerseits und den Informationszugang des Betroffen andererseits stellt (vgl. auch Staub/Lerch/Krumm, DAR 2021, 125). Während eine bloß theoretisch bestehende Aufklärungschance – zumal in Massenverfahren – keine Aufklärungspflicht des Gerichts begründet, erlaubt sie es dem Betroffenen, bei der Bußgeldbehörde (oder für diese tätige Stellen) vorhandene Informationen für eigene Überprüfungen und die Suche nach Entlastungsmomenten zu erhalten, sofern ein ordnungsgemäßer Einsichtsantrag gestellt wurde und keine gegenläufigen verfassungsrechtlichen Güter (etwa Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, schützenswerte Interessen Dritter) entgegenstehen (vgl. auch Sandherr, DAR 2021, 69 [70 f.]). Liegen die zulässigerweise begehrten Informationen bei der Bußgeldstelle (oder bei der ihr zuarbeitenden Polizeidienststelle) vor, hat sie dem Betroffenen auf Antrag Einsicht hierein zu gewähren. Daher überspannt es die Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen, ihn in dieser Konstellation darauf zu verweisen, sich zunächst um eine Herausgabe der Unterlagen bei dem Gerätehersteller oder der mit der konkreten Messung betrauten Polizeidienststelle zu bemühen (vgl. auch Krenberger, NZV 2021, 209 [210]).”

Dem schließt sich der Senat umfassend an. Daraus folgend besteht vorliegend, betreffend den Zeitraum seit der der Messung vorausgehenden Eichung, ein Einsichtsrecht in vorhandene Reparatur- und Wartungsunterlagen beziehungsweise ein Recht auf eine entsprechende Erklärung der Bußgeldbehörde, soweit solche Unterlagen nicht vorhanden sind. Der Beschwerdeführer hat die geforderten Wartungsunterlagen hinreichend konkret benannt. Mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2020 hat der Verteidiger des Betroffenen erneut unter anderem beantragt, ihm Einsicht in die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen des Messgeräts zu gewähren, da diese Informationen für ihn relevant seien, um sich von der Korrektheit der Geschwindigkeitsmessung überzeugen und etwaige Messfehler, Zweifel an der Messung bzw. entlastende Tatsachen aufdecken zu können. Damit ist zugleich der erforderliche sachliche und zeitliche Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung dargetan. Nach der dargestellten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung genügt es – auch wenn die Erwägungen des Beschwerdeführers in seinem Antrag auf Einsichtnahme in die Reparatur- und Wartungsunterlagen nur eine bloß theoretische Aufklärungschance zu begründen vermögen -, dass ihre Eignung zur Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigung nicht schlechthin ausgeschlossen erscheint. Dafür, dass dem Anspruch gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter entgegenstehen könnten, ist nichts ersichtlich.

Das Urteil war deshalb mit den Zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben, §§ 353 Abs. 2 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückzuverweisen, § 79 Abs. 6 OWiG. Ob darüber hinaus weitere Rechtsverletzungen vorliegen, kann demgegenüber dahinstehen.