Durch das Amtsgericht wurden dem Betroffenen einige Messunterlagen zur Prüfung überlassen, nicht aber die Messreihe mit Statistik. Hier meinte das Gericht, ein Anspruch bestehe nicht und eine Beschwerde gegen seine Entscheidung sei nach ständiger Rechtsprechung des Beschwerdegerichts (LG Hagen) unzulässig. Das machte das LG nicht mit: Zum einen existiere eine solche ständige Rechtsprechung nicht und zum anderen seien die Daten der Messreihe durchaus zur Verfügung zu stellen, wenn zur Relevanz dieser Daten für die Verteidigung in ausreichender Weise vorgetragen wurde.

LG Hagen, Beschluss vom 30.09.2021 – 46 Qs 59/21

Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Amtsgerichts Schwelm vom 16.08.2021 aufgehoben, soweit eine Zurückweisung des Antrags im Übrigen erfolgte.

Der Ennepe-Ruhr-Kreis – Zentrale Bußgeldstelle – wird angewiesen, dem Verteidiger folgende Daten auf einem von ihm bereitgestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen:

Die digitalen Falldatensätze der gesamte Messreihe, die zwischen dem 22.06.2020 (16:30 Uhr) und dem 23.06.2020 (16:40 Uhr) von dem Messgerät Vitronic Poliscan Speed (Geräte-Nr. 651722) erstellt wurden, samt Case-List(en) und Statistikdatei(en).

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

1.

Der Ennepe-Ruhr-Kreis erließ unter dem 20.10.2020 einen Bußgeldbescheid gegenüber dem Beschwerdeführer. Ihm wurde darin vorgeworfen, am 23.06.2020 um … Uhr in Wetter, BAB 1, km 351,880, RF Bremen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h überschritten zu haben. Gegen den Beschwerdeführer wurde in diesem Bescheid eine Geldbuße von 104,00 Euro festgesetzt. Ferner wurde angekündigt, dass die Entscheidung zu einer Eintragung von einem Punkt in das Fahreignungsregister führe. Die vorliegende Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit dem Messgerät Vitronic Poliscan Speed (Betrieb im Enforcement Trailer).

Gegen den Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer am 03.11.2020 Einspruch ein. Nachdem das Verfahren an das Amtsgericht Schwelm abgegeben worden war, bestellte sich der jetzige Verteidiger und begehrte unter dem 22.06.2021 die Vorlage verschiedener Unterlagen des Messvorganges, unter anderem die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien und Case-Listen. Zur Begründung führte die Verteidigung aus, dass bislang lediglich der einzelne Datensatz der konkreten Messung vorliege, nicht aber der gesamte Datensatz der Messreihe. Eine vollständige Prüfung der Messreihe sei allerdings erforderlich, weil der Beschwerdeführer aufgrund des vorliegenden standardisierten Messverfahrens konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vortragen müsse. Angesichts des Gebots der Waffengleichheit seien ihm daher die Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Denn aus der Überlassung der Messreihe könnten Fehler aufgedeckt werden, die aus der einzelnen Messung des Beschwerdeführers nicht zu erkennen seien.

Konkret könne, sofern sich zeige, dass einzelne andere Messungen fehlerhaft seien, die Vermutung einer korrekten Messung erschüttert werden, da die Messbeständigkeit des Messgerätes in Frage gestellt werden könne. Dies gelte ebenfalls, wenn ein Messfoto ohne Fahrzeug aber mit einem eingebildeten Messwert vorhanden sei. Schließlich sei mit der Überlassung der Messreihe auch ein Vergleich der Messung des Beschwerdeführers mit Messungen von anderen Verkehrsteilnehmern möglich. Etwaige Abweichungen und Störungen seien hierbei ohne Überlassung des Vergleichsmaterials nicht möglich. Zudem könne durch einen Vergleich mit der Messreihe eine Neuausrichtung / Verschiebung des Messgerätes festgestellt werden, was – sofern eine Dokumentation unterblieben sei – ein standardisiertes Messverfahren widerlegen würde. Ferner sei erst durch die Messreihe ersichtlich, ob diese vollständig sei oder nicht, wobei Letzteres ebenfalls gegen die Messbeständigkeit des Messgerätes spreche. Ferner seien weitere Funktionsfehler des Gerätes nur durch die vollständige Vorlage der Messreihe ersichtlich. Dies betreffe insbesondere die Annullierungsrate der Messreihe, die auf einen Defekt des Messgerätes oder einen fehlerhaften Aufbau hindeuten könne, außerdem könnten Kamerafunktionsstörungen erkannt werden, die fehlerhafte Messungen zur Folge haben könnten. Schließlich sei nur anhand der konkreten Messreihe festzustellen, ob und inwiefern das Messgerät den Vorgaben der Bauartzulassung entspreche bzw. von diesen abweicht und wie häufig Verkehrsverstöße dokumentiert sind, was Rückschlüsse auf die Erkennbarkeit der Verkehrsregelung zulasse. Es bestehe daher aus dem Recht auf ein faires Verfahren ein Anspruch auf Herausgabe der gesamten Messreihe.

Die Statistikdateien und die Case-Listen seien für die Überprüfung der Messung schließlich ebenfalls erforderlich und könnten beansprucht werden, da aus diesen im Wesentlichen dieselben oben genannten Fehlermöglichkeiten ermittelt werden könnten. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den bei den Akten befindlichen Schriftsatz vom 22.06.2021, Bl. 117-124 d.A., verwiesen.

Mit Beschluss vom 16.08.2021 hat das Amtsgericht Schwelm beschlossen, dass der Verteidigung eine Vielzahl weiterer beantragter Unterlagen vorzulegen seien, nicht allerdings die vollständige Messreihe, die Statistikdatei und Case-Listen. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass nicht dargelegt sei, welche Informationen aus der Messreihe entnommen werden sollen und welche Rückschlüsse auf eine fehlerhafte Messung gegenüber dem Beschwerdeführer sich aus der Messreihe ergeben
würden.

Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer am 23.08.2021 Beschwerde ein. Diese sei zum einen zulässig, weil § 62 Abs. 2 OWiG angesichts des Verfahrensstadiums nicht zur Anwendung gelange und auch kein Fall des § 305 Abs. 1 OWiG vorliege. Die Beschwerde sei ferner auch begründet, wobei zum einen auf die Ausführungen des Schriftsatzes vom 22.06.2021 verwiesen werden könne. In diesem Schriftsatz sei dezidiert aufgeführt worden, weswegen die weiteren Falldatensätze von anderen Verkehrsteilnehmern benötigt würden, so dass auf die Ausführungen verwiesen werden könne. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschwerdeschriftsatz der Verteidigung vom 23.08.2021, Bl. 144-150 d.A., verwiesen.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache über die Staatsanwaltschaft Hagen dem Beschwerdegericht vorgelegt.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

1.
Das Amtsgericht hat ausgeführt, dass die Beschwerde gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG und angesichts der ständigen Rechtsprechung des Landgerichts Hagen unzulässig sei. Dies ist unrichtig.

Zum einen findet § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG auf die vorliegende Fallkonstellation keine Anwendung. Denn § 62 OWiG begründet Regelungen, die im Zusammenhang mit Anträgen auf gerichtliche Entscheidungen gegen Maßnahmen der Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren stehen (vgl. Kurz in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 62 Rn. 3; Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Auflage 2020, § 62 Rn. 1; LG Würzburg, Beschluss vom 29.12.2020 – 1 Qs 253/20, juris). Ein derartiger Antrag wurde hier jedoch gar nicht gestellt. Eine „ständige Rechtsprechung” des Landgerichts Hagen zur Zulässigkeit der vorliegend eingelegten Beschwerde, die passenderweise durch das Amtsgericht nicht zitiert wurde, existiert darüber hinaus nicht.

Zum anderen ist die Beschwerde auch nicht gemäß § 305 Satz 1 StPO unzulässig. Nach dieser Regelung unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen nicht der Beschwerde. Die Regelung bezweckt Verfahrensverzögerungen zu verhindern, die eintreten, sofern Entscheidungen der erkennenden Gerichte sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtsmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten. Dieser Ausschluss gilt allerdings nur für Entscheidungen, die im innerem Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung selbst der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 21.05.2015 – 1 Ws 80/15, Rn. 10, juris; Schmitt in: Meyer-Goßner, StPO, 64. Auflage 2021, § 305 Rn. 1). Indes wird die Frage, ob die Nichtherausgabe der vollständigen Messreihe eines Geschwindigkeitsmessgerätes durch die Möglichkeit eines Rechtsbeschwerdeverfahrens bzw. der Zulassung der Rechtsbeschwerde überhaupt geprüft werden kann, von verschiedenen Oberlandesgerichten unterschiedlich beurteilt, (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 06.05.2015 – 2 Ss (OWi) 65/15; beck-online OLG Bamberg, Beschluss vom 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15, beck-online). Ohne die Beschwerdemöglichkeit besteht daher die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Rechtsbeschwerdeverfahren keine Möglichkeit mehr hat, die fehlende ergänzende Akteneinsicht durch Herbeischaffung der Messreihe zu rügen. Um zu vermeiden, dass der Beschwerdeführer damit einen nicht mehr behebbaren Rechtsverlust erleidet, kann vorliegend zulässigerweise Beschwerde eingelegt werden (vgl. LG Kaiserslautern, Beschluss vom 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, Rn. 9 f., juris).

2.
Die Beschwerde ist begründet.

Der Verteidigung steht im vorliegenden Fall ein Recht auf ergänzende Akteneinsicht durch Überlassung der vollständigen Messreihe nebst Statistikdatei und Case-Listen zu. Dieses Recht folgt daraus, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren die Möglichkeit bestehen muss, auch Aktenbestandteile zu erhalten, die vorhanden sind, sich aber nicht bei der Verfahrensakte befinden, weil beispielsweise die Verwaltungsbehörde oder das Gericht deren Hinzuziehung nicht für erforderlich erachtet hat. Diese Möglichkeit folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren, da der Beschwerdeführer generell die Möglichkeit erhalten muss, prozessual durch Stellung von Beweis- oder Beweisermittlungsanträgen auf den Fortgang des Ermittlungsverfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 50 ff., juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, 1 OLG 331 Ss-Bs 23/20, Rn. 12 ff., juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20, Rn. 11, juris).

Dieses Recht ist aus materiell-rechtlichen Gründen im vorliegenden Fall auch nicht begrenzt. Es ist anerkannt, dass das vorstehende Akteneinsichts- bzw. Aktenvervollständigungsrecht nicht unbegrenzt und schrankenlos gilt. Denn gerade im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts, die als Masseverfahren gelten, ist es erforderlich, dass die begehrten Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen. Allerdings ist es ausreichend, dass seitens des Beschwerdeführers konkret erläutert wird, dass aus seiner Sicht die begehrten Informationen erforderlich sind und er diese zur Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs benötigt. Unerheblich ist demgegenüber in diesem Verfahrensstadium, dass das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die erbetenen Informationen nicht für erforderlich erachtet. Denn es obliegt dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger zu beurteilen, ob er die begehrten Informationen für ihn von Relevanz sind, so dass dieser einer auch nur theoretischen Aufklärungschance nachgehen darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 55 ff., juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20, Rn. 11, juris). Der Beschwerdeführer hat auch, anders als das Amtsgericht meint, hinreichend deutlich vorgetragen, weswegen er die Einsicht in die vollständige Messreihe benötigt. Die Ausführungen der Verteidigung erhalten dezidierte Angaben darüber, woraus sich – zumindest aus Sicht der Verteidigung – Messfehler ergeben können, was zunächst einmal ausreicht. Dass das Amtsgericht eine „objektive Relevanz” in der Überlassung der Messreihe nicht erkennt, ist zum einen – wie bereits dargestellt – unerheblich. Zum anderen hat das Amtsgericht jegliche Ausführungen dazu unterlassen, woraus sich die fehlende objektive Relevanz aus Sicht des Amtsgerichts überhaupt ergeben soll. Ob nach Einsicht in die Messreihe die seitens der Verteidigung vermuteten Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung indes ausreichen, um konkrete Umstände darlegen zu können, die die Messung in Zweifel ziehen können, ist nach Ansicht der Kammer zwar zweifelhaft, für den vorliegenden Antrag aber unerheblich und ein Umstand, der letztlich durch das Amtsgericht bei Fortgang des Verfahrens zu beurteilen sein wird.

Der getroffenen Entscheidung stehen auch keine verfahrensrelevanten Interessen, insbesondere von Dritten, entgegen. Denn die Daten der Messreihe können – was die Bußgeldstelle gegenüber dem Beschwerdegericht auf telefonische Nachfrage bestätigt hat – anonymisiert werden. Auf die Frage, ob die berechtigten Interessen von ebenfalls durch Messungen erfassten Dritten gegenüber dem Recht des Beschwerdeführers zurücktreten müssen, kam es daher nicht an. Hinzu tritt, dass verfahrensrelevante Interessen im: Hinblick auf den anzustellenden Aufwand der Bußgeldstelle der Herausgabe der Messreihe nicht entgegenstehen. Denn das Messgerät wurde im Rahmen der hier vorliegenden Messreihe lediglich für ca. 24 Stunden an der Messstelle eingesetzt, so das die erhobenen Datenmengen nicht ein Volumen einnehmen, die eine Übersendung der Messreihe erheblich erschweren, ohne dass der Verteidigung ein Mehrwert zukommen würde.

Sofern die Kammer bezüglich eines ähnlich gelagerten Sachverhaltes in der Vergangenheit eine ergänzende Akteneinsicht noch abgelehnt hatte, begründet dies keinen Widerspruch für hier getroffenen Entscheidung, da in dem in der Vergangenheit zu entscheidenden Fall keine hinreichende Begründung für die Vorlage der gesamten Messreihe vorgebracht wurde und daher ein Anspruch auch nach der neuerlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie einiger Oberlandesgerichte zu verneinen war (vgl. LG Hagen, Beschluss vom 05.03.2021 – 46 Os 56/20, juris).

3.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 467 Abs. 1 StPO analog.

Mitgeteilt von Rechtsanwälte Zimmer-Gratz, Bous.