Nach der Entscheidung des BVerfG zur Einsichtnahme in (Roh-)Messdaten von Geschwindigkeitsmessungen gibt das LG Würzburg seine ältere, entgegenstehende Rechtsprechung auf und überträgt die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auf Abstandsmessungen. Daraus folgt hier, dass dem Verteidiger bei dem Messverfahren VKS 3 auf Antrag das Messvideo in ausreichender Qualität sowie das Referenzvideo zur Verfügung zu stellen sind.

LG Würzburg, Beschluss vom 29.12.2020 – 1 Qs 253/20

Verteidiger: Rechtsanwalt Lobitz Michael, Werkstättenstraße 39 c, 51379 Leverkusen, Gz.: …

1. Auf die Beschwerde des Betroffenen hin wird der Beschluss des Amtsgerichts Kitzingen vom 08.12.2020 aufgehoben, soweit die Anträge auf Übermittlung des Referenzvideos und des Messvideos in ausreichender Qualität abgelehnt wurden. Im Übrigen (Antrag auf Terminsaufhebung) wird die Beschwerde als unzulässig verworfen.

2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Kitzingen zurückverwiesen.

Gründe:

1.

Das Amtsgericht Kitzingen führt unter dem Aktenzeichen 2 OWi 952 Js 18277/20 gegen den Betroffenen ein Bußgeldverfahren wegen der Unterschreitung des erforderlichen Abstandes von 58,00 m zum vorausfahrenden Fahrzeug um 41,00 m.

Die Abstandsmessung erfolgte mit dem Verkehrskontrollsystem VKS3.

Mit Verfügung vom 18.11.2020 wurde vom Amtsgericht Kitzingen letztlich Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.12.2020, 10.15 Uhr, bestimmt.

Mit Schriftsatz vom 08.12.2020 beantragte der Betroffene über seinen Verteidiger die Übermittlung des Referenzvideos sowie des Messvideos in ausreichender Qualität sowie die Aufhebung des Termins zur Vorbereitung einer technischen Auswertung nach Vorlage der bezeichneten Datei.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Kitzingen vom 08.12.2020 wurde der Antrag des Betroffenen vom 08.12.2020 zurückgewiesen. Auf die Begründung wird Bezug genommen.

Gegen den formlos mitgeteilten Beschluss legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 09.12.2020 Beschwerde ein und begründete diese mit selbem Schriftsatz. Auf die Begründung wird Bezug genommen.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Kitzingen vom 10.12.2020 wurde der Beschwerde des Betroffenen nicht abgeholfen. Hinsichtlich der Gründe wird auf den Beschluss Bezug genommen.

Mit Verfügung vom 10.12.2020 hob das Amtsgericht Kitzingen den Hauptverhandlungstermin vom 10.12.2020 auf.

Die Staatsanwaltschaft Würzburg beantragte in ihrer Vorlageverfügung an das Landgericht Würzburg vom 14.12.2020, die Beschwerde kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Beschwerde des Betroffenen ist zulässig, soweit sie die Ablehnung der Anträge auf Übermittlung des Referenzvideos und des Messvideos in ausreichender Qualität betrifft; soweit sie zulässig ist, ist sie auch begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde, soweit sie die Ablehnung des Antrages auf Aufhebung des Termins betrifft, unzulässig.

1.

Soweit die Kammer der Beschwerde stattgibt, weicht sie aufgrund der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 1616/18, Beschl. vom 12.11.2020) von ihrer bisherigen Rechtsprechung (etwa 1 Qs 173/20, Beschl. vom 28.09.2020), auf die sich das Amtsgericht Kitzingen bezog, ausdrücklich ab.

Bei dem zur Messung des vorliegenden Abstandsverstoßes zur Anwendung gekommenen Messverfahren handelt es sich um ein sogenanntes standardisiertes Messverfahren.

Bei standardisierten Messverfahren sind im Regelfall – ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler – die Feststellungs- und Darlegungspflichten des Tatgerichts reduziert. Regelmäßig umfasst der Akteninhalt der Bußgeldakte daher lediglich diejenigen Informationen, die zur Feststellung des Geschwindigkeitsverstoßes nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens entscheidungserheblich sind. Dabei bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Aus dem Recht auf faires Verfahren folgt deshalb, dass der Betroffene dementsprechend grundsätzlich auch einen Anspruch auf Zugang zu solchen Inhalten hat, die zum Zwecke der Ermittlung erlangt wurden, aber nicht zur Akte gelangt sind, bei der Bußgeldbehörde jedoch vorhanden sind. Jedoch darf dies nicht unbegrenzt gelten; es ist gerade in Ordnungswidrigkeitenverfahren eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszuganges geboten. Die Tatgerichte haben daher im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das Ersuchen innerhalb dieses Rahmens hält, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020, Az.: 2 BvR 1616/18.

Die unterbliebene Überlassung von nicht zu den (Gerichts-)Akten gelangten Unterlagen sowie der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten oder der Messreihe kann allerdings damit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 12.11.2020, Az.: 2 BvR 1616/18) einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens darstellen.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat zwar Geschwindigkeitsmessungen zum Gegenstand; die Inhalte sind jedoch ohne Weiteres auf Abstandsmessungen übertragbar.

Das Amtsgericht Kitzingen hat in der Begründung des angegriffenen Beschlusses vom 08.12.2020 pauschal darauf verwiesen, dass eine Beschaffung und Überlassung der nicht bei der Akte befindlichen begehrten Informationen aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt erforderlich sei. Nach der bisherigen Rechtsprechung im hiesigen OLG-Bezirk sei durch die Ablehnung eines solchen Antrags weder der Grundsatz des fairen Verfahrens noch rechtliches Gehör verletzt. Das Amtsgericht Kitzingen hätte sich aber nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer Einzelfallprüfung damit auseinander setzen müssen, ob hier eine Ausnahme von dem Grundsatz vorliegt, dass der Betroffene einen Anspruch auf Zugang zu Informationen hat, die bei der Bußgeldbehörde vorhanden sind, aber nicht zur Akte gelangt sind.

Der Beschluss des Amtsgerichts Kitzingen vom 08.12.2020 war daher aufzuheben soweit die Anträge auf Übermittlung des Referenzvideos und des Messvideos in ausreichender Qualität abgelehnt wurden, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Kitzingen zurückzugeben.

Das Amtsgericht Kitzingen hat unter Berücksichtigung der dargelegten Erwägungen erneut über die Anträge zu entscheiden.

2.

Im Übrigen war die Beschwerde mangels Beschwer als unzulässig zu verwerfen. Das Amtsgericht Kitzingen hat den Hauptverhandlungstermin vom 21.12.2020 bereits mit Verfügung vom 10.12.2020 aufgrund des laufenden Beschwerdeverfahrens aufgehoben. Es liegt daher prozessuale Überholung vor, aufgrund derer die Beschwerde hinsichtlich der Ablehnung des Antrags auf Aufhebung des Termins unzulässig geworden ist.

III.

Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst.

Mitgeteilt von Herrn Roland Bladt, Hohenahr.