Gegen den Betroffenen erging ein Bußgeldbescheid mit Fahrverbot wegen einer ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung, festgestellt im Rahmen einer Messung mit Leivtec XV3. Den zunächst eingelegten Einspruch nahm er später, noch bevor die Möglichkeit falscher Messungen bei dem Gerät allgemein bekannt wurde, wieder zurück

Ein später Wiederaufnahmeantrag hatte Erfolg: Aus der Antragsschrift und den beigefügten Sachverständigengutachten seien konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 ersichtlich, die zum Erlasszeitpunkt des Bußgeldbescheids weder der Behörde noch dem Gericht bekannt gewesen seien und daher nicht hätten berücksichtigt werden können. Für § 85 OWiG i.V.m. § 359 S. 1 Nr. 5 StPO genüge es, dass die beigebrachten neuen Tatsachen und Beweise geeignet sind, nach der Wiederaufnahme zumindest die Einstellung des Verfahrens zu begründen. Das wiederaufgenommene Verfahren wurde sodann gemäß § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt.

AG Bad Saulgau, Beschluss vom 02.02.2022 – 1 OWi 25 Js 10148/20

1. Die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich des Betroffenen … wird angeordnet.

2. Das Verfahren wird sodann gem. § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt. Der Bußgeldbescheid vom 07.04.2020 der Stadt Bad Saulgau wird aufgehoben.

3. Die Kosten des Verfahrens, einschließlich des Wiederaufnahmeverfahrens, ebenso wie die notwendigen Auslagen des Betroffenen im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahren trägt die Staatskasse. Im Übrigen hat der Betroffene seine notwendigen Auslagen selbst zu tragen.

Gründe:

I.

Gegen den Antragsteller wurde mit Bußgeldbescheid vom 07.04.2020 – … – der Stadt Bad Saulgau wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften. eine Geldbuße von 230,- € verhängt sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat festgesetzt. Der Bußgeldbescheid wurde sodann dem damaligen Verteidiger des Betroffenen am 14.04.2020 zugestellt. Dieser legte gegen den Bußgeldbescheid am selben Tag Einspruch ein, erklärte im gerichtlichen Verfahren nach einem Hinweis des Gerichts, dass eine Verurteilung wegen Vorsatzes in Betracht kommen würde, am 14.10.2020 sodann aber die Rücknahme des Einspruchs.

Die dem Verfahren zu Grunde liegende Geschwindigkeitsmessung wurde mit dem Messgerät Leivtec XV 3 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen, lagen keine konkreten Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Richtigkeit der Messungen durch das Messgerät bei der Behörde (oder bei Gericht) begründet hätten.

Mit Schreiben vom 11.06.2021 beantragte der jetzige Verteidiger des Betroffenen die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Freisprechung des Betroffenen. Der 7-seitige Antragsschriftsatz nebst den angehängten drei Sachverständigengutachten ziehen. die allgemeine Richtigkeit der Messungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 auf Grundlage technischer Untersuchungen durch Sachverständige, deren Ergebnis ab 19.10.2020 veröffentlicht wurden, erheblich in Zweifel. Die Staatsanwaltschaft erklärte auf Anfrage des Gerichts vom 27.09.2021 und 07.01.2022 mit Schreiben vom 18.01.2022 die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens, für den Fall, dass das Verfahren wiederaufgenommen werden sollte.

II.

1. Der Antrag auf Wiederaufnahme ist zulässig und begründet (ebenso: AG Güstrow, Beschl. v. 09.06.2021, 971 OWi 458/21 sowie AG Oldenburg, Beschl. v. 03.11.2021 – 29 OWi 775 Js 56106/20 (342/21), beide zitiert bei www.burhoff.de, zuletzt aufgerufen am 01.02.2022 und AG Cloppenburg Beschl. v. 06.08.2021 – 18 OWi 775 Js 46945/21 (611/21), BeckRS 2021, 34311 Rn. 5, beck-online).

a) Der Antrag ist zulässig. Das Amtsgericht Bad Saulgau ist gem. §§ 85 Abs. 4, 68 OWiG zuständig. Der Betroffene hat mit seinem Antrag gem. § 85 OWiG i.V.m. § 359 S. 1 Nr. 5 StPO neue Tatsachen und Beweise beigebracht, die geeignet sind, nach Wiederaufnahme zumindest die Verfahrenseinstellung (OLG Bamberg, NJW 1955, 1121 ff.) zu begründen. Aus der Antragsschrift und den beigefügten Sachverständigengutachten ergeben sich nämlich konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messungen mit dem Messgerät Leivtec XV3, die zum Erlasszeitpunkt des Bußgeldbescheids weder der Behörde noch dem Gericht bekannt waren und daher keine Berücksichtigung bei der Ahndung des Geschwindigkeitsvorwurfs finden konnten. Der Wiedereinsetzungsantrag ist weiter formgerecht gem. § 85 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 366 Abs. 2 StPO mittels einer von dem Verteidiger unterzeichneten Schrift eingelegt worden. Auch ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Betroffenen nicht deshalb unzulässig, da gem. § 85 Abs. 2 OWiG gegen diesen keine Geldbuße über zweihundertfünfzig Euro festgesetzt worden ist. Bei Nebenfolgen nicht-vermögensrechtlicher Art, wie etwa bei einem Fahrverbot, ist die Wiederaufnahme auch in diesem Fall zulässig (BeckOK OWiG/Ganter, 32. Ed. 1.10.2021, OWiG § 85 Rn. 11; Krenberger/Krumm, 6. Aufl. 2020, OWiG § 85 Rn. 22; Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, OWiG § 85 Rn. 6, beck-online; AG Wetzlar DAR 2000, 376).

b) Der Wiederaufnahmeantrag ist zudem begründet gem. § 46 OWiG i.V.m. §§ 370 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2, 359 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Dies ist dann der Fall, wenn die im Antrag aufgestellten Behauptungen genügende· Bestätigung gefunden haben und die tatsächliche Grundlage der das Verfahren abschließenden Entscheidung – hier des Bußgeldbescheides – erschüttern (vgl. KK-StPO/Schmidt, 8. Aufl. 2019, StPO § 370 Rn. 2; BVerfG NStZ 1990, 498). Es muss dadurch hinreichend wahrscheinlich sein, dass eine (hypothetisch) erneut durchgeführte Hauptverhandlung zu einem zu dem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren abweichenden Ergebnis führt (vgl. KK-StPO/Schmidt, 8. Aufl. 2019, StPO § 370 Rn. 2; BVerfG NStZ 1990, 499; BGHSt 42, 31, 323 f.). Beides ist vorliegend der Fall. Das Messgerät Leivtec XV3 erfüllt aufgrund nunmehr nachgewiesener unzulässiger Fehlmessungen die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens derzeit nicht. Bei hypothetischer erneuter Durchführung der Hauptverhandlung würde das Verfahren eingestellt werden. Zur näheren Begründung wird diesbezüglich auf die Beschlüsse des AG Güstrow v. 09.06.2021, a.a.O., des AG Oldenburg v. 03.11.2021, a.a.O., des AG Cloppenburg v. 06.08.2021 a.a.O., des AG Bad Saulgau v. 01.04.2021 – 1 OWi 25 JS 28777/19, BeckRS 2021, 6875, des OLG Stuttgart v. 10.06.2021 – 6 Rb 26 Ss 133/21, BeckRS 2021, 14050 sowie auf die Ausführungen des zuständigen Richters in der NZV 2021, 385 ff. Bezug genommen.

2. Das Verfahren war sodann mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft- ohne nochmalige Durchführung der Hauptverhandlung (vgl. Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, § 23 Wiederaufnahme des Verfahrens Rn. 34, beck-online) – gem. § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen und der Bußgeldbescheid aufzuheben (vgl. Seitz/Bauer in: Göhler OWiG, § 85 Rn. 28 m.w.N.).

4. Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Kosten des Wiederaufnahmeverfahrens und der beim Betroffenen entstandenen Auslagen im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens beruht auf § 46 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 6 Nr. 1 StPO. Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 464, 467 Abs. 1, 4 und 5 StPO.

Mitgeteilt von Rechtsanwälte Zimmer-Gratz, Bous.