Die Klägerin befuhr eine Vorfahrtsstraße und überholte eine Kolonne mehrerer wartender Fahrzeuge, indem sie über eine Sperrfläche und eine durchgehende Linie (Zeichen 295) sowie auf der Fahrbahnhälfte des Gegenverkehrs mit ca. 50 km/h fuhr. Ein Motorradfahrer hätte die Fahrzeuge ohne Überfahren der Sperrfläche bzw. durchgehenden Linie überholen können. Die wartepflichtige Beklagte, für welche die Klägerin sichtbar war, fuhr mit ca. 10 km/h in die Vorfahrtsstraße ein und es kam zum Zusammenstoß. Das OLG München bestimmte die Haftung jeweils auf 50 %.

OLG München, Urteil vom 15.03.2019 – 10 U 2655/18

I. Auf die Berufung der Klägerin vom 01.08.2018 wird das Endurteil des LG München II vom 01.03.2018 (Az. 14 O 3325/16) in Nr. 1. und 2. abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1.1. Die Beklagten werden verurteilt, samtverbindlich an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 571,44 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 07.08.2016 zu bezahlen.

1.2 Es wird festgestellt, dass die Beklagten samtverbindlich verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche weiteren unfallbedingten Schäden zu 50 % zu ersetzen, die ihr auf Grund des Verkehrsunfalles vom 27.06.2016 gegen 07.20 Uhr auf der G.Straße in M.S. noch entstehen werden, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

1.3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 77 %, die Beklagten samtverbindlich 23 %.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 77 %, die Beklagten samtverbindlich 23 %.

III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz verneint.

1. Auf Grund der vom Senat ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere den Angaben der Zeugin K.-W. und den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. R., dessen hervorragende Sachkunde dem Senat aus einer Vielzahl erholter Gutachten und Anhörungen vor dem Senat bekannt ist und denen der Senat folgt, war die Klägerin für die Beklagte zu 1) beim Einfahren in die Vorfahrtstraße sichtbar und der Unfall für sie bei entsprechender Blickzuwendung vermeidbar. Bei Einfahrbeginn der Beklagten zu 1) 1 Sek. – 1,41 Sek. vor der Kollision war die Klägerin 14 m – 20 m entfernt, es liegt daher ein Vorfahrtverstoß der Beklagten zu 1) vor. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Pkw der Beklagten zu 1) betrug etwa 10 km/h. Die Klägerin ihrerseits fuhr unter Missachtung der durchgehenden Linie und einer Sperrfläche über diese hinweg teilweise auf der Fahrbahnhälfte des Gegenverkehrs mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h an der stehenden Kolonne vorbei in den Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich ein. Ein teilweises Überfahren der Sperrfläche und der durchgehenden Linie muss nach den Feststellungen des Sachverständigen auch dann erfolgt sein, wenn – wovon der Senat auf Grund der Angaben der Zeugin K.-W. ausgeht – die wartenden Fahrzeuge ganz rechts eingeordnet waren. Die Zeugin erinnerte sich weiter, dass sich der Verkehr zum Unfallzeitpunkt wie üblich staute und ein Pkw vor ihr und sie selbst bereits längere Zeit in der G. Straße standen, als die Klägerin ihrem Eindruck nach sehr schnell und mit Vollgas die Kolonne links überholte. Dass bei dieser Verkehrslage im Berufsverkehr mit aus der P. Straße ausfahrende Fahrzeugen zu rechnen war, drängte sich auch aus Sicht der Klägerin auf. Der Senat glaubt auch den Angaben der Beklagten zu 1), wonach der Lkw zunächst so im Einmündungsbereich stand wie aus der Anlage A 1 zum Sachverständigengutachten ersichtlich und anrollte, als sie sich an der Haltlinie befand. Deshalb und weil die hinter dem Sattelschlepper wartenden Fahrzeuge ganz rechts eingeordnet waren, hätte ein Zweiradfahrer auf Grund der Straßenbreite im Moment der Anfahrt der Beklagten zu 1) unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes die Kolonne überholen können, ohne die durchgehende Linie und die Sperrfläche zu überfahren. Die ergänzende Beweisaufnahme ergab nicht, dass die Beklagte zu 1) trotz Wahrnehmung der Klägerin reaktionslos weiterfuhr. Der Senat geht davon aus, dass die Beklagte zu 1) zuletzt vor der Anfahrt nicht nochmals nach links blickte, sondern nach rechts in Richtung des auf der Linksabbiegerspur in der G. Straße befindlichen Pkw´s. Die Kollision wäre nach den Feststellungen des Sachverständigen auch vermieden worden, wenn die Klägerin nicht schneller als 30 km/h gefahren wäre.

2. Das Vorfahrtrecht der Klägerin erstreckt sich über die gesamte Fahrbahnbreite und entfällt auch nicht durch deren verkehrswidriges Überholen.

a) Ein Vorfahrtverstoß der Beklagten zu 1) liegt vor, da die Klägerin bei Einfahrt in die bevorrechtigte Straße für die Beklagte zu 1) als Bevorrechtigte erkennbar war.

b) Vorliegend ist zu bedenken, dass sämtliche zunächst für die Beklagte zu 1) sichtbaren vorfahrtberechtigten Fahrzeuge wegen eines Rückstaus in der P. Straße nicht in diese abbiegen konnten. Die Kreuzung war dergestalt durch abbiegewillige Fahrzeuge „blockiert“, dass bevorrechtigter Verkehr aus Sicht der Beklagten zu 1) nur von rechts kommen konnte. Die Ansicht, Zeichen 295 diene nur dem Schutz des Gegenverkehrs und nicht dem Schutz des Einbiegenden (so auch OLG Hamm SP 2001, 82 = DAR 2001, 308; KG NZV 1998, 376 = VersR1999, 1382: nur Schutz des Gegen- und Mitverkehrs), erschöpft nicht die Problematik des Streitfalls (vgl. BGH VersR 1987, 906; Senat, NZV 1996, 115; Senat, Urteil v. 28.09.2007, Az. 10 U 4003/07 [Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen]). Die ununterbrochene Linie – Zeichen 295 – dient als Fahrstreifenbegrenzung, d.h., wenn sie wie hier die beiden Fahrbahnhälften einer Straße trennt, dazu, den für den Gegenverkehr bestimmten Teil der Fahrbahn zu begrenzen. Damit schützt sie in erster Linie den Gegenverkehr (so auch OLG Hamm JMBlNRW 1957, 209 und NJW 1959, 2323; OLG Düsseldorf DAR 1976, 214). Die Markierung bezweckt andererseits, dass nur rechts von der Linie gefahren werden darf (s. BR-Drucks. 420/70 zu § 41 S. 81, 82), so dass ein Überholen unter Inanspruchnahme der abgegrenzten anderen Fahrbahnhälfte unzulässig ist (Senat aaO). Sie spricht allerdings ein Überholverbot nicht unmittelbar aus. Daraus, dass die in Frage stehende Markierung auch dort nicht einem Überholverbot im Sinne von § 5 III StVO gleichzusetzen ist, wo wegen der Beschaffenheit der Straße ein Überholen an dieser Stelle nicht ohne ein verbotswidriges Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung möglich ist, kann nicht geschlossen werden, dass die Fahrstreifenbegrenzung keine Auswirkungen auf die Verkehrserwartung anderer Verkehrsteilnehmer hat. Im Gegenteil schützt, so BGH VersR 1987,906, „eine solche Markierung, wo sie sich wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirkt (vgl. BGH, Urteil vom 26. November 1974 – VI ZR 10/74VersR 1975, 331, 332), auch das Vertrauen des Vorausfahrenden, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen. Er darf sich – ähnlich wie bei einer natürlichen Straßenverengung – darauf verlassen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhält, also nicht zum Überholen ansetzt, wenn dies nur durch Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung oder der Sperrfläche möglich ist.“ Nach Ansicht des Senats kann bei einer ununterbrochenen Mittellinie auch ein einbiegender Kraftfahrer darauf vertrauen, dass nicht unter Inanspruchnahme einer für den Gegenverkehr bestimmten Fahrspur überholt wird (ebenso – im Fall eines die Fahrbahn an einer durchgezogenen Mittellinie querenden Fußgängers – Senat, NZV 1996, 115). Genau in diesem Verstoß liegt vorliegend eine wesentliche Unfallursache.

Nach der Entscheidung des BGH vom 16.01.2007 VI ZR 248/05 = NZV 2007, 354 f „haben die Vorschriften der StVO den Zweck, die Gefahren des Straßenverkehrs abzuwehren und Verkehrsunfälle zu verhindern. Die hierfür aufgestellten Regeln beruhen auf der durch Erfahrung und Überlegung gewonnenen Erkenntnis, welche typischen Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringt und welches Verkehrsverhalten diesen Gefahren am besten begegnet. Damit besagen die Verkehrsvorschriften zugleich, dass ihre Nichteinhaltung die Gefahr eines Unfalls in den Bereich des Möglichen rückt (BGH, VersR 1975, 37)“, so dass, wenn sich die Nichtbeachtung unfallursächlich auswirkte, ein Verstoß im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich zu berücksichtigen ist und dies (BGH NZV 2007, 354 f) „unabhängig davon, ob der andere Unfallverursacher in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen ist.“. Die als Fahrstreifen- bzw. Richtungsfahrbahnbegrenzung dienende ununterbrochene Mittellinie dient der Sicherheit des Straßenverkehrs, ihr Überfahren und der ordnungswidrige Überholvorgang haben sich unfallursächlich ausgewirkt. Nur durch diesen Verkehrsverstoß war die Klägerin überhaupt an die Unfallstelle gelangt.

c) Im Hinblick auf die langsame Einfahrgeschwindigkeit der Beklagten zu 1) und die angesichts der Verkehrssituation viel zu hohe Geschwindigkeit, mit der die Klägerin verbotswidrig unter Überfahren der ununterbrochenen Linie und der Sperrfläche an der wartenden Kolonne vorbei in den Einmündungsbereich einfuhr und die geringe Verzugszeit der Beklagten zu 1) einerseits und das Gewicht des Vorfahrtverstoßes, bei dem im vorliegenden Fall zu berücksichtigen ist, dass im Moment der Anfahrt der Beklagten zu 1) ein Motorradfahrer ohne Verkehrsverstoß die Kolonne hätte überholen können, gelangt der Senat zu einer hälftigen Haftungsverteilung (vgl. auch OLG Hamm, Urteil v. 20.10.2005, Az. 27 U 37/05 [Juris]). Wegen letztgenannter Erwägung gelangt der Senat nicht zu einer überwiegenden Haftung des Vorfahrtberechtigten, der um des schnelleren Fortkommens willen verbotswidrig wie vorliegend geschehen überholt (OLG Brandenburg, Urteil v. 02.04.2009, Az. 12 U 214/08; OLG Düsseldorf, Urteil v. 25.04.2017, Az. 1 U 147/16; Senat, Urteil v. 28.09.2007, Az. 10 U 4003/07 [Juris]).

2. Ausgehend von den unstreitigen Schadenspositionen und Sachverständigenkosten in Höhe von 1.135,56 € (für eine Erstattung der über das Schadensgutachten hinaus geltend gemachten Kosten der gesonderten Restwertermittlung besteht keine Rechtsgrundlage, da der Pkw reparaturwürdig war und die Klägerin den Pkw reparieren lassen will) ergibt sich angesichts der vorprozessualen Zahlungen kein Anspruch der Klägerin mehr. Die erstattungsfähigen Rechtsanwaltskosten errechnen sich ausgehend von einem berechtigten Streitwert von 5.406,99 € wie tenoriert.

Das Feststellungsbegehren war zum Zeitpunkt der Klageerhebung zulässig, da weitere Schäden im Fall der Fahrzeugreparatur zu erwarten waren. Ein Mangel des Feststellungsinteresses wegen Vorrangs einer Leistungsklage kommt nicht in Betracht, da die Klägerin nicht nachträglich ihren Feststellungsantrag weitergehend in einen Leistungsantrag umzuändern braucht, auch wenn dies aufgrund der Schadensentwicklung im Laufe des Rechtsstreits möglich würde (BGH NJW 1996, 2725; BGH NJW 1999, 3774).

Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

II. Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 92 I 1 Fall 2 ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.