Kommt es zwischen einem Pkw und einem Lkw zu einem Zusammenstoß auf Grund einer Vorfahrtsverletzung durch den Fahrer des Pkw, kommt eine Haftungsteilung nicht schon auf Grund der Tatsache, dass ein Lkw an dem Unfall beteiligt war, in Betracht. In dieser Entscheidung des OLG München geht es um einen Lkw, der eine Bundesstraße mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit befuhr, als ein wartepflichtiger Pkw-Fahrer ein Stopschild überfuhr, um auf die Bundesstraße links abzubiegen. Eine Mithaftung der Lkw-Halterin wurde verneint (Urteil vom 03.06.2016, Az. 10 U 124/16).

aa) Nach den abermals gem. §§ 528 S.2, 529 I Nr. 1 ZPO bindenden Feststellungen des Erstgerichts hat der Beklagte zu 2) den Unfall dadurch verursacht, dass er trotz für ihn geltenden Stoppschildes das Vorfahrtsrecht des klägerischen Fahrers missachtet hat. Dass der Beklagte zu 2) auf diese Weise den Unfall zumindest mitverursacht hat, wird von den Beklagten im Übrigen auch gar nicht angezweifelt.

bb) Den Beklagten wiederum ist es nicht gelungen, einen schuldhaften Verursachungsbeitrag des klägerischen Fahrers nachzuweisen. Diesbezüglich gilt Folgendes, worauf der Senat auch schon insb. mit Beschluss vom 22.04.2016 (Bl. 150-153 d.A.) hingewiesen hat:

• Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug am Unfallort für den klägerischen Lkw gem. § 3 III Nr. 2 lit. b) aa) StVO 60 km/h, während sich die Ausgangsgeschwindigkeit des Lkw ausweislich des hier erholten unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) S. vom 06.03.2015 nicht näher eingrenzen ließ als zwischen 59 km/h und 71 km/h.

• Die Auffassung der Beklagten, der klägerische Fahrer hätte aufgrund der Verhältnisse vor Ort (gem. § 3 I StVO) weniger schnell als 60 km/h fahren dürfen, ist unzutreffend. So ereignete sich der Unfall bei Tageslicht auf trockener Fahrbahn (vgl. S. 4 des unfallanalytischen Sachverständigengutachtens S.). Der Aktenlage ist nicht zu entnehmen, dass irgendwelche witterungsbedingte Sichtbehinderungen vorgelegen hätten. Zwar war die zulässige Höchstgeschwindigkeit (für Fahrzeuge, welche hier grundsätzlich schneller als 60 km/h fahren durften) mittels Zeichens 274 auf 70 km/h beschränkt. Dies betraf aber nicht den klägerischen Lkw, welcher ohnehin nicht schneller als 60 km/h fahren dufte. Hätte man hier eine (weitere) Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für derartige Lkw auf weniger als 60 km/h anordnen wollen, hätte man ein entsprechendes Verkehrszeichen anbringen müssen. Der klägerische Fahrer durfte daher grundsätzlich davon ausgehen, dass es für ihn keiner Geschwindigkeitsreduzierung auf weniger als 60 km/h bedurfte. Auch durfte er darauf vertrauen, dass Fahrzeuge, welche sich auf der R. dem Einmündungsbereich zur B 304 näherten bzw. dort an der Haltelinie bereits warteten, seine Vorfahrt beachten würden.

• Soweit die Beklagten mit dem o.g. Schriftsatz vom 13.05.2016 darauf hinweisen, dass es seitens der Straßenverkehrsbehörden angebracht gewesen wäre, durch eine entsprechende Beschilderung nicht nur die Höchstgeschwindigkeit für Pkw von 100 km/h auf 70 km/h zu reduzieren, sondern auch diejenige für Lkw von 60 km/h auf ein entsprechend geringeres Maß, und dass eine unterlassene Beschilderung keinen Dispens von § 3 StVO begründe, vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar war für den klägerischen Fahrer die Sicht auf den Einmündungsbereich der R.straße durch Brückenbefestigungen eingeschränkt; allerdings durfte er sich, wie bereits ausgeführt, darauf verlassen, dass für ihn keine Reduzierung der Geschwindigkeit auf weniger als 60 km/h veranlasst war, und zwar nicht zuletzt gerade deswegen, weil die Geschwindigkeit für Pkw reduziert war, er also davon ausgehen durfte, dass die Straßenverkehrsbehörden die abstrakte Gefahrenlage erkannt und ihr mit der Beschilderung umfassend begegnet waren. Zudem hat eine solche Geschwindigkeitsreduzierung ersichtlich zumindest auch den Sinn, es vorschriftsgemäß vor dem Stoppschild haltenden Verkehrsteilnehmern zu ermöglichen, noch rechtzeitig vor dem Einbiegen auf die B 304 die sich dort mit entsprechend geringerer Geschwindigkeit nähernden Fahrzeuge erkennen zu können. Dies mag zwar bzgl. eines mit 100 km/h fahrenden Pkw, nicht aber bzgl. eines ohnehin nicht schneller als 60 km/h fahrenden Lkw problematisch sein, so dass es veranlasst war, die Beschilderung, wie geschehen, vorzunehmen.

• Ebenso unzutreffend ist die Auffassung der Beklagten, es sei unstreitig, dass die Ausgangsgeschwindigkeit des klägerischen Fahrers mindestens 65 km/h betragen habe. Insbesondere lässt sich dem Vortrag auf S. 2 der Klageschrift vom 14.03.2014 (= Bl. 2 d.A.), die Geschwindigkeit des Lkw habe „ca. 60 bis 65 km/h“ betragen, kein solches klägerisches Zugeständnis entnehmen. Denn hier wurde – unter Verwendung der Worte „ca.“ und „bis“ – ersichtlich nur eine bloße Schätzung vorgetragen, und dies noch dazu ggf. nur unter dem Eindruck des im Ermittlungsverfahren erholten unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen H.

• Nicht richtig ist schließlich auch der Vortrag der Beklagten, es sei nachgewiesen, dass der klägerische Fahrer die Kollision in zeitlicher Hinsicht hätte vermeiden können, wenn er nicht schneller als 60 km/h gefahren wäre. Zu einem derartigen Ergebnis ist insbesondere auch nicht das o.g. unfallanalytische Gutachten S. gekommen. Vielmehr lautet das Ergebnis dieses Gutachtens auf S. 21 bloß, dass eine klägerische zeitliche Unvermeidbarkeit nicht bestätigt werden könne. Betrachtet man nun S. 20 dieses Gutachtens isoliert, so wie es die Beklagten tun (vgl. S. 4 der Berufungserwiderung = Bl. 146 d.A.), ergibt sich zwar eine klägerische zeitliche Vermeidbarkeit, dies aber nur, wenn man eine Geschwindigkeit des bekl.-Pkw von 19 km/unterstellt. Dass diese Geschwindigkeit tatsächlich 19 km/h betrug, und dies noch dazu konstant, erscheint demgegenüber völlig ungewiss. So erwähnt das Gutachten S. (vgl. dort S. 5) zunächst die Feststellung des Sachverständigen H., wonach die Pkw-Kollisionsgeschwindigkeit bei 17-22 km/h gelegen habe. Sodann wird (auf S. 6) ausgeführt, dass die Spurenlage vor Ort weder durch den Sachverständigen H. noch durch die Polizei qualifiziert vermessen worden sei. Auf S. 13 wird schließlich Folgendes festgestellt: „Die Verknüpfung der Lkw-Bewegung mit dem Einfahrverhalten des bekl.-Pkw unterliegt ebenfalls Unsicherheiten, da die möglichen Pkw-Kollisionsgeschwindigkeiten aufgrund des großen Masseunterschiedes zwischen Lkw und Pkw nicht genau bestimmt werden können. (…) Diese stellen sich theoretisch dahingehend vor, dass die bekl.-Kollisionsgeschwindigkeit nicht weiter unterscheidbar das Ergebnis einer Beschleunigung, einer konstanten Fahrt oder auch einer Bremsung gewesen sein kann. Diese Variationen eröffnen ein mögliches Ergebnisspektrum für die bekl.-Bewegung, die zu einer nahezu unbegrenzten Kombinationsmöglichkeit zu den (möglichen) klägerischen Annäherungsbedingungen führen würde.“

Letztlich ist das Ergebnis dieses Gutachtens, dass zwar die Klägerin nicht den Nachweis einer klägerischen Kollisions-Unvermeidbarkeit führen kann, dass umgekehrt aber auch die Beklagten nicht den Nachweis einer klägerischen Kollisions-Vermeidbarkeit führen können.

Mangels weiterer Anknüpfungstatsachen erübrigt sich auch eine Erholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu dieser Problematik.

cc) Wie weiterhin bereits vom Senat mit Verfügung vom 03.03.2016 (Bl. 139-141 d.A.) hingewiesen, gilt bzgl. der Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge (§ 17 I, II StVG) bzw. der Frage eines Zurücktretens der Betriebsgefahr des klägerischen Lkw Folgendes: Dass es in derartigen Fällen zu einem vollständigen Zurücktreten der Betriebsgefahr kommt, entspricht der ständigen Rechtsprechung (vgl. z.B. die Entscheidungssammlung bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 14. Aufl. 2015, Rdnr. 8). Hiervon allein deshalb abzuweichen, weil es sich hier nicht um das Verhältnis Pkw/Pkw, sondern um das Verhältnis Lkw/Pkw handelt, erscheint nicht angezeigt. Indes geht hiervon offenbar auch das Erstgericht nicht aus, stützt es seine Entscheidung doch auf sein kumulativ hinzutretendes Argument, „eine Geschwindigkeit des Lkw von 71 km/h“ könne „unter Berücksichtigung der Toleranzen nicht ausgeschlossen werden“ (vgl. Seite 8 des Urteils). Dabei verkennt es in entscheidungserheblicher Weise den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, dass die für die Abwägung maßgebenden Umstände feststehen müssen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein müssen (BGH in ständiger Rechtsprechung, vgl. z.B. NJW 2014, 217).