Das AG Baden-Baden schließt sich hier der neueren Rechtsprechung des OLG Karlsruhe zur “Akteneinsicht” im Bußgeldverfahren an und überträgt die vom OLG aufgestellten Grundsätze auf Abstandsmessverfahren. Nachdem die Behörde nur bereit war, das Übersichtsvideo im DVD- (bzw. MPEG-)Format vorzulegen, “um eine generelle Abspielbarkeit zu gewährleisten”, verpflichtet das AG sie, das Originalvideo, welches im Bußgeldbescheid als WMV-Video angegeben ist, vorzulegen. Hintergrund ist, dass bei der umgewandelten Videodatei die Halbbilder wohl nicht mehr einzeln betrachtet werden können, was die sachverständige Auswertung des Videos erschwert bzw. verhindert. Eine Lebensakte müsse allerdings nicht geführt und daher auch nicht herausgegeben werden.
AG Baden-Baden, Beschluss vom 02.10.2019 – 14 OWi 264/19
1. Auf Antrag der Betroffenen vom 05.08.2019 wird die Bußgeldbehörde verpflichtet,
a) der Verteidigerin das Messvideo in der unkomprimierten Originalversion zur Verfügung zu stellen und
b) dieser mitzuteilen, welches Select-Modul bei der Messung zum Einsatz kam.Im Übrigen wird der Antrag auf gerichtliche Entscheidung verworfen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Mit Bußgeldbescheid vom 14.05.2019, zugestellt an den Betroffenen am 18.05.2019, verhängte das Regierungspräsidium Karlsruhe als Bußgeldbehörde gegen die Betroffene ein Bußgeld von 180,00 EUR wegen eines Abstandsverstoßes in Sinzheim auf der BAB5. Über seine Verteidigerin legte die Betroffene hiergegen am 28.05.2019, am selben Tag per Fax bei der Bußgeldbehörde eingegangen, Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein.
Mit Schriftsatz vom 05.07.2019 beantragte die Verteidigerin, dass ihr Folgendes zur Verfügung gestellt werde: Beweisvideo im Originalformat (laut Bußgeldbescheid .wmv), sämtliche vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen zur Messanlage, Nachweise dazu, ob und welches Select-Modul beim Messbetrieb zum Einsatz kam sowie wann die verwendete Messanlage erstmals in Verkehr gebracht wurde. Mit Schreiben vom 25.07.2019 wies die Bußgeldbehörde darauf hin, dass keine Verpflichtung zur Führung einer sogenannten Lebensakte nach der Rechtsprechung des OLG Frankfurt bestehe. Die Videosequenz werde außerdem ausschließlich im Format DVD-Video herausgegeben, um eine generelle Abspielbarkeit zu gewährleisten.
Mit Fax vom 05.08.2019, eingegangen bei der Bußgeldbehörde am selben Tag, beantragte die Verteidigerin gerichtliche Entscheidung hinsichtlich der verwehrten Zurverfügungstellung der in Ihrem Schriftsatz vom 05.07.2019 genannten Unterlagen und Daten. Sie begründete hierin den Antrag auf gerichtliche Entscheidung.
Die Bußgeldbehörde half dem Antrag nicht ab und legte die Akten dem Amtsgericht Baden-Baden vor. Erst in diesem Schreiben führte die Bußgeldbehörde unter anderem an, dass bei dem angewandten Messverfahren das VKS select-Modul eingesetzt werde.
II.
Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäߧ 62 OWiG ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, weshalb die Bußgeldbehörde insoweit zur Auskunft zur verpflichten war. Im Übrigen war der Antrag unbegründet.
1. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt sich aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 StPO nur ein Akteneinsichtsrecht auf bereits bei der amtlichen Akte befindliche Unterlagen und dazugehöriger Beweismittel. Dieses bezieht sich jedoch nicht auf Beschaffung weiterer Unterlagen und Beweismittel oder auf die Einsicht in neben der Akte existierender Unterlagen. Aus dem Gebot des fairen Verfahrens entsteht jedoch das Recht des Betroffenen, dass ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen zu können. Die Konkretisierung, was hiervon umfasst ist, obliegt den Gerichten, sofern keine gesetzlichen Regelungen existieren.
Im Bußgeldverfahren bedeuten diese Grundsätze, dass aus dem Prinzip der Waffengleichheit schon gegenüber der Verwaltungsbehörde das Recht des Betroffenen besteht, Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen zu können, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte – bei sogenannten standardisierten Messverfahren – für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 -1 Rb 10 Ss 291/19- Rn. 27- juris). Gerade bei standardisierten Messverfahren steht und fällt die Anerkennung als solches auch mit der ordnungsgemäßen Bedienung des Messgerätes. Es ist also für den Angriff der Messung für den Betroffenen in seiner Verteidigung ebenso wichtig, Einsicht in diese wie in weitere Messunterlagen zu bekommen. Dieser Anspruch besteht auch bereits im Vorverfahren (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 aaO, Rn. 28). Datenschutzrechtliche Bedenken gegen die Übersendung von Messunterlagen stehen dem nicht entgegen (vgl. OLG Karlsruhe, Besch. v. 16.07.2019 aaO, Rn. 28).
Danach hat die Betroffene das Recht auf Übersendung des Originalmessvideos im unkomprimierten Format, welches hier das *.wmv-Format sein soll sowie die Mitteilung, welches Modul bei der Messung eingesetzt wurde. Nach Anhörung eines Sachverständigen der DEKRA Niederlassung Karlsruhe ergab sich, dass zur Überprüfung der Messung im Sinne einer Plausibilitätskontrolle stets die Heranziehung des unkomprimierten Originalvideos erforderlich sei. Das in der Akte auf DVD enthaltene Video sei komprimiert. Nur im Originalvideo könnten jedoch die einzelnen Frames entsprechend durchgeschaltet werden, was für die Überprüfung der Messung durchaus nötig sei. Dies könne mit dem Video auf der DVD nicht geschehen. Der Betroffenen, der das Recht der Überprüfung der Messung durch einen privaten Sachverständigen zusteht, muss daher ebenfalls die Möglichkeit gegeben werden, diesem die originale Videodatei zur Verfügung stellen zu können, weshalb der Verteidigerin auf ihren Antrag hin die Videosequenz im Originalformat zu übersenden ist.
Auch hinsichtlich der Frage, welches Select-Modul beim Einsatz im Betrieb war, hat die Betroffene einen Anspruch auf Mitteilung. Dies wurde zwar durch die Bußgeldbehörde dem erkennenden Gericht bei Vorlage der Akten mitgeteilt, soweit aus der Akte ersichtlich nicht aber auch der Betroffenen bzw. deren Verteidigerin. Insoweit war die Bußgeldbehörde daher ebenfalls zur Auskunft zu verpflichten.
2. Hinsichtlich des Antrages der Vorlage vorhandener Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen ist der Antrag jedoch unbegründet. Nach der Rechtsprechung besteht keine Verpflichtung der Behörde, eine sogenannte Lebensakte zu einem Messgerät zu führen, in welchem die entsprechenden Unterlagen vorhanden wären. Zudem werden entsprechende Lebensakten in Baden-Württemberg nicht geführt, weshalb die Bußgeldbehörde dem Begehren – rechtlich zulässig – tatsächlich gar nicht nachkommen könnte. Die Eichscheine wurden bereits von der Bußgeldbehörde übermittelt, allein darauf bestünde ein Anspruch der Betroffenen.
Entsprechend besteht auch kein Anspruch auf Mitteilung des ersten Inverkehrbringens des Messgerätes.
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 62 Abs. 2 S. 2 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 1, Abs. 4 StPO analog. Aufgrund des Teilerfolges machte das Gericht im Rahmen des eingeräumten Ermessens Gebrauch und auferlegte die Kosten und notwendigen Auslagen insofern insgesamt der Staatskasse.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 62 Abs. 2 S. 3 OWiG.
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