Nachdem “klare Aussagen” zum Bestehen eines Einsichtsrechts in Messdaten von Seiten der Höchstgerichte und der Oberlandesgerichte in vielen Bezirken fehlen und die verschiedenen vertretenen Ansichten bei den Amtsgerichten – mehr oder weniger – ausdiskutiert sind, hat sich die Diskussion teilweise, vor allem seit dem Beschluss des LG Trier aus dem Jahr 2017, auf die Beschwerdekammern bei den Landgerichten verlagert. Aber auch hier ist eine klare Linie noch nicht erkennbar. Das zeigt sich an zwei aktuellen Beschlüssen, wobei interessanterweise in keiner der beiden Entscheidung von der häufig angenommenen Unzulässigkeit der Beschwerde gegen die Ablehnung der Einsicht durch den erkennenden Richter (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 305 Satz 1 StPO) Gebrauch gemacht worden ist. Doch einmal wird die Einsicht quasi “in alles” gewährt, das andere mal in gar nichts.

Zunächst zum Beschluss des LG Stuttgart, das sich ähnlich wie bereits im Jahr 2016 äußert: Dieses entscheidet den genannten Streit nämlich dahin, dass ein Recht auf Einsicht in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen nicht bestehen soll. Es gehe allein um die Frage, ob die Unterlagen oder Daten zur Sachaufklärung durch das Gericht notwendig seien. Die Frage der Waffengleichheit stelle sich nicht, da diese gegenüber dem Gericht nicht bestehe und auch dieses die begehrten Unterlagen nicht zur Verfügung habe. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zum standardisierten Messverfahren könne ein Betroffener den Nachweis einer fehlerhaften Messung mit diesen Unterlagen gar nicht führen, solange keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler erkennbar sind. Weiter heißt es: “Einer durch ökonomische Verfahrensgestaltung gewünschten effektiven, auch die kurzen Verjährungsfristen im Blick behaltenden Bewältigung von Massenverfahren stünde eine privatgutachterliche und möglicherweise anschließend gerichtlich angeordnete sachverständige Überprüfung von Messdaten und Unterlagen ohne konkrete Anhaltspunkte auf Messfehler evident entgegen.” Der Anspruch, nur auf Grund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten belangt zu werden, bleibe aber gewahrt, da der Betroffene auf konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messung hinweisen und Beweisanträge stellen könne.

LG Stuttgart, Beschluss vom 29.04.2019 – 7 Qs 27/19

In dem Bußgeldverfahren gegen

Verteidiger: Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Winkelstraße 24, 66359 Bous, Gz.: 5850

wegen OWi StVO
hier: Beschwerde des Betroffenen

hat das Landgericht Stuttgart – 7. Große Strafkammer – durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht …, die Richterin am Landgericht … und den Richter am Landgericht … am 29. April 2019 beschlossen:

Die Beschwerde des Betroffenen gegen Ziffer 2 des Beschlusses des Amtsgerichts Stuttgart vom 8. April 2019 wird als unbegründet verworfen.

Der Betroffene trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe (Az. …) hat durch Bußgeldbescheid vom 5. November 2018 gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h eine Geldbuße von 70 € verhängt. Die Geschwindigkeitsmessung wurde mit dem Messsystem TraffiStar S 330 durchgeführt. Der Betroffene hat gegen den ihm am 9. November 2018 zugestellten Bußgeldbescheid über seine Verteidigerin am 19. November 2018 Einspruch eingelegt.

Mit Schriftsatz vom 30. November 2018 hat die Verteidigerin gegenüber dem Regierungspräsidium Karlsruhe beantragt, ihr die digitalen Fallakten des Betroffenen und die restliche Messserie jeweils mit Rohmessdaten, die Statistikdatei, den Public Key, die Bedienungsanleitung zum Messgerät sowie die Lebensakte oder, falls eine solche nicht geführt wird, die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen zur Messanlage seit der ersten Inbetriebnahme zur Verfügung zu stellen. In der Folgezeit hat das Regierungspräsidium Karlsruhe die Falldatei von der Messung des Betroffenen mit Passwort und Token sowie die Bedienungsanleitung des Messgerätes an einen vom Betroffenen beauftragten privaten Sachverständigen übersandt, die Herausgabe der weiteren Daten und Unterlagen aber abgelehnt.

Daraufhin hat die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 3. Januar 2019 eine gerichtliche Entscheidung dahingehend beantragt, die Verwaltungsbehörde anzuweisen, einem von der Verteidigung beauftragten technischen Sachverständigen die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten, Statistikdatei und Public Key sowie sämtliche vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise seit der ersten Inbetriebnahme zur Verfügung zu stellen. Der Antrag wurde mit dem Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren begründet, welches auch das Gebot der Waffengleichheit beinhalte. Die angeforderten Unterlagen und Daten würden benötigt, um die Erfolgsaussichten des Einspruchs einzuschätzen, eine Stellungnahme eines Sachverständigen einzuholen und gegebenenfalls für den Betroffenen eine Erklärung abzugeben bzw. im gerichtlichen Verfahren zu möglicherweise ermittelten Messfehlern oder -ungenauigkeiten vorzutragen. Eine vollständige Überprüfung der Messung sei ohne die angeforderten Unterlagen nicht möglich. Da es nach der Rechtsprechung erforderlich sei, konkrete Anhaltspunkte für Messfehler darzulegen, um eine (weitere) Aufklärungspflicht der Verwaltungsbehörde bzw. des Gerichts auszulösen, müsse der Betroffene die Unterlagen erhalten bzw. auswerten lassen können, damit er seiner Darlegungslast nachkommen könne und eine bestmögliche Verteidigung sichergestellt sei. Es wäre unzutreffend, bereits an dieser Stelle konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlmessung zu verlangen, damit die Messdaten herausgegeben werden.

Durch Beschluss vom 21. Januar 2019 hat das Amtsgericht Stuttgart den Antrag unter Bezugnahme auf ein Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10. Dezember 2018 abgelehnt.

Den weiteren Antrag der Verteidigerin vom 6. April 2019, die digitalen Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihen mit Rohmessdaten, die Statistikdatei, den Public Key, sämtliche vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweise der Messanlage seit der ersten Inbetriebnahme und die verkehrrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung zur Verfügung zu stellen, hat das Amtsgericht Stuttgart in Ziffer 2 seines Beschlusses vom 8. April 2019 unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 21. Januar 2019 abgelehnt.

Dagegen richtet sich die über die Verteidigerin eingelegte Beschwerde des Betroffenen, zu deren Begründung im Wesentlichen auf den Schriftsatz vom 3. Januar 2019 Bezug genommen wird.

II.

Die zulässige, insbesondere weder nach § 62 Abs. 2 S. 3 OWiG noch nach § 305 StPO unstatthafte Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

Ob ein Betroffener einen Herausgabeanspruch auf Messdaten und Ähnliches hat, ist umstritten:

Eine gewichtige Auffassung führt für das Bestehen eines Herausgabeanspruchs an, dass die begrenzte gerichtliche Kontrolle eine uneingeschränkte Überprüfungsmöglichkeit durch die Betroffenen notwendig mache. Durch die Herausgabe der Daten werde Wissensparität und damit Waffengleichheit zwischen dem Staat und den Betroffenen hergestellt. Ohne diese Daten sei ein Betroffener gar nicht in der Lage, mögliche Fehler des Messvorgangs zu ermitteln. Das Vorenthalten der Messdaten bedeute eine Verletzung rechtlichen Gehörs bzw. des Anspruchs auf ein faires Verfahren.

Die gegenteilige Auffassung macht geltend, dass sich das rechtliche Gehör nur auf den Tatsachenstoff beziehe, der Grundlage der gerichtlichen Entscheidung werde. Dies treffe auf die Rohmessdaten und Ähnliches aber nicht zu, da sie sich nicht in der Gerichtsakte befänden. Der Grundsatz des fairen Verfahrens sei ebenfalls nicht berührt, weil der Betroffene durch die Überlassung der Messdaten den Nachweis der Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Fehlverhaltens nicht führen könne, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für Messfehler bestünden. Denn in einer solchen Situation sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum standardisierten Messverfahren eine Verurteilung ohne weitere Überprüfung des Messvorgangs rechtsfehlerfrei möglich. Es würde einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn der ermittelte Geschwindigkeitswert einerseits eine ausreichende Verurteilungsgrundlage bilden würde, andererseits einem Antrag auf Überlassung der Messdaten und Ähnlichem mit dem Ziel der Anzweiflung des Messwerts stattgegeben werden müsste (vgl. Röß, NZV 2018, 507 mit umfangreichen Nachweisen in Rechtsprechung und Schrifttum zu beiden vorgenannten Auffassungen).

Die Kammer schließt sich der zuletzt wiedergegebenen Auffassung an. Ein Herausgabeanspruch des Betroffenen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) besteht nicht. Lehnt ein Gericht die Herausgabe von Unterlagen ab, so handelt es nicht “unfair”. Damit wird lediglich zwischen Gericht und Verteidigung eine Rechtsfrage differenziert bewertet, nämlich, ob die Herausgabe zur weiteren Sachaufklärung erforderlich ist. Ob das Gericht diese Frage richtig beantwortet, ist anhand der gesetzlichen Vorschriften – hier: § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 244 Abs. 2 StPO – zu klären; mit fair trial hat es nichts zu tun (vgl. Meyer-Goßner, NJW 1982, 353, 362). Auch der Grundsatz der Waffengleichkeit ist nicht tangiert. Dieser Grundsatz findet im Verhältnis zwischen Gericht und Betroffenen keine Anwendung (BVerfGE 122, 245). Zudem stehen dem Gericht nicht herausgegebene Daten und Unterlagen eben nicht zur Verfügung, sodass sich ein Wissensvorspruch schon deshalb nicht ergeben kann.

Dies zugrunde gelegt, hat das Amtsgericht Stuttgart zu Recht den Antrag des Betroffenen auf Herausgabe von Messdaten und weiteren Unterlagen abgelehnt. Das Amtsgericht war im Wege seiner Aufklärungspflicht nicht gehalten, dem Betroffenen zur Einschätzung der Erfolgsaussichten seines Einspruchs die herausverlangten Daten und Unterlagen zu verschaffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die sich die Kammer zu eigen macht, ist anerkannt, dass Messergebnisse, die, wie hier, nach Abzug der Messtoleranz mit amtlich zugelassenen Geräten in standardisierten Verfahren gewonnen werden, von Behörden und Gerichten im Regelfall ohne weiteres zugrunde gelegt werden können. Fehlerquellen müssen nur erörtert werden, soweit der Einzelfall dazu konkrete Veranlassung gibt (BGHSt 39, 291 ff.). Die amtliche Zulassung von Geräten und Methoden verfolgt – ebenso wie die Berücksichtigung eines Toleranzabzuges für etwaige systemimmanente Messfehler – gerade den Zweck, Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und Erörterung des Regelfalls freizustellen (BGHSt 39, 291, 297). Sogar in Strafsachen können regelmäßig Ergebnisse allgemein anerkannter kriminaltechnischer oder rechtsmedizinischer Untersuchungsverfahren verwertet werden, ohne dass die genaue Funktionsweise der verwendeten Messgeräte bekannt ist, sodass keine strengeren Anforderungen in Bußgeldsachen gelten können, bei denen es lediglich um die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten geht und die im Hinblick auf ihre vorrangige Bedeutung für Massenverfahren des täglichen Lebens auf eine Vereinfachung des Verfahrensgangs ausgerichtet sind (BGHSt 39, 291, 299). Einer durch ökonomische Verfahrensgestaltung gewünschten effektiven, auch die kurzen Verjährungsfristen im Blick behaltenden Bewältigung von Massenverfahren stünde eine privatgutachterliche und möglicherweise anschließend gerichtlich angeordnete sachverständige Überprüfung von Messdaten und Unterlagen ohne konkrete Anhaltspunkte auf Messfehler evident entgegen.

Der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten belangt zu werden, bleibt durch die Möglichkeit gewahrt, auf konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messung im Einzelfall hinzuweisen und diesbezüglich Beweisanträge zu stellen.

Derartige konkrete Fehlerquellen wurden vom Betroffenen nicht vorgebracht.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf§ 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.

Vielen Dank an Frau Rechtsanwältin Monika Zimmer-Gratz, Bous, für die Zusendung dieser Entscheidung.