Im vergangenen Jahr erhielten einige Verteidiger Post vom Regierungspräsidium Kassel, wonach ihrem Antrag auf Einsicht in ganze Messserien aus Geschwindigkeitsmessgeräten aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht stattgegeben werden könne und bestimmte Verfahrensweisen bezüglich der Übersendung von Beweismitteln an Rechtsanwälte mit Vertretern der hessischen Gerichte festgelegt worden seien. Die Überlassung von digitalen Messdateien sei demnach “nicht erforderlich”. Gegen (vermutlich) eine solche Ablehnung hatte ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung allerdings vor Kurzem beim AG Kassel Erfolg (Beschluss vom 23.12.2015, Az. 371 OWi 315/15), denn es hat die Übersendung der ganzen Messbildreihe an den Verteidiger angeordnet. Dies folge aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Der Verteidiger müsse der Behörde nur einen Datenträger zur Verfügung stellen. Die Berufung der Behörde auf die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens an dieser Stelle sei ein Zirkelschluss. Das Datenschutzrecht stehe der Einsichtnahme nicht entgegen und auch die Token-Datei sei, falls erforderlich, zu übersenden.

Gemäß § 46 I OWiG i.V.m. § 147 StPO hat der Verteidiger der Betroffenen ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weiteren Unterlagen oder Datenträger bezieht, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird (Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 60 Rn. 49), aus denen sich der Schuldvorwurf ergeben soll und die möglicherweise auch der Entlastung der Betroffenen dienen können.

Auch wenn der Messfilm nicht zur Akte genommen worden und damit nicht Aktenbestandteil im engeren Sinne ist, ergibt sich ein Einsichtsrecht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens (“fair trial”), vgl. nur AG Stuttgart, Beschl. v. vom 29.12.2011 – 16 OWi 3433/11; AG Cottbus, Beschl. v. 14.09.2012 – 83 OWi 1122/12; AG Ulm, Beschl. v. 21.02.13 – 5 OWi 45/13 – zitiert nach: Juris). Der Verteidiger hat einen Anspruch auf Einsicht in alle Unterlagen, die be- oder entlastend für den Betroffenen sein können und deshalb auch dem gerichtlichen Sachverständigen vorgelegt werden.

Soweit die Verwaltungsbehörde der Auffassung ist, dass bei einem “standardisierten Messverfahren nicht ersichtlich sei, wozu die gesamte Messreihe benötigt werde”, unterliegt sie einem Zirkelschluss. Die Einsicht in den gesamten Messfilm ist erforderlich, um beispielsweise Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen oder sonstige Hinweise auf eine Fehlfunktion des Geschwindigkeitsmessgerätes oder eine fehlerhafte Inbetriebnahme oder Bedienung des Gerätes durch den Messbeamten erkennen zu können. Aus den Aufzeichnungen der gesamten Messung können Schlüsse auf die Messung gezogen werden, mit der der Vorwurf gegen die Betroffene begründet wird.

Die Einsicht in den vollständigen Messfilm ist dem Verteidiger durch Übersendung einer Kopie des Messfilms zu gewähren. Den hierfür erforderlichen Datenträger hat der Verteidiger zur Verfügung zu stellen. Das Gericht weist bereits jetzt darauf hin, dass dem Verteidiger bei verschlüsselten Messdaten zum Zwecke der Einsicht selbstverständlich auch der öffentliche Schlüssel zu übermitteln ist,  ohne den die Datensätze für den Verteidiger nicht lesbar und damit schlicht nutzlos wären.

Schließlich stehen der Einsicht in den gesamten Messfilm auch keine datenschutzrechtlichen Gründe – namentlich der Persönlichkeitsschutz anderer abgebildeter Verkehrsteilnehmer – entgegen (so ausdrücklich auch AG Bergisch Gladbach, Beschl. v. 02.10.2015 – 48 OWi 355/15 (b); AG Fritzlar, Beschl. v. 07.10.2014 – 4 OWi 11/14, 04 OWi 11/14; AG Stuttgart, Beschl. v. 01.04.2014 – 11 OWi 575/14; AG Duderstadt, Beschluss vom 25.11.2013, 3 OWi 300/13; AG Cottbus, Beschl. v. 14.09.2012 – 83 OWi 1122/12; AG Senftenberg, Beschl. v. 26.04.2011 – 59 OWi 93/11; zitiert nach: Juris).

Zwar ist durch die Einsicht in den Messfilm das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1 I GG i.V.m. Art. 2 I GG, konkret das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der anderen abgebildeten Personen betroffen. Insoweit ist jedoch zu bedenken, dass die anderen Personen durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und auch der Kontrolle ihres Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei ausgesetzt haben. Hinzu kommt, dass der aufgezeichnete und festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.2011 – 2 BvR 2072/10 = NJW 2011, 2783, 2785). Zu berücksichtigen ist im Rahmen der Abwägung des Interesses des Betroffenen an einer ordnungsgemäßen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung mit dem Interesse anderer abgebildeter Verkehrsteilnehmer auch, dass der nach der obergerichtlichen Rechtsprechung dem Betroffenen die Darlegungslast hinsichtlich eines behaupteten Messfehlers obliegt (OLG Frankfurt, Beschl. v. 04.12.2014 – 2 Ss-OWi 1041/14). Nur wenn dieser im Einzelfall konkrete Tatsachen dem Gericht gegenüber vorträgt, die geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit des zur Verhandlung stehenden konkreten Messergebnisses aufkommen lassen, kann das Tatgericht sich veranlasst sehen, diese Zweifel durch die Bestellung eines Sachverständigen nach §§ 73 ff StPO zu verifizieren, der dann die konkrete Messung zu überprüfen hat. Auf Grund dieser hohen Anforderungen bezüglich Angriffen auf die Geschwindigkeitsmessung wäre der Betroffene ohne die Möglichkeit, die Messung ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen in allen Einzelheiten auch und hinsichtlich möglicher Fehlerquellen  zu überprüfen, in seiner Verteidigung unzulässig eingeschränkt.

Aus den dargelegten Gründen ist dem Betroffenen im Wege der Einsicht in den Messfilm die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises einzuräumen. Mit Rücksicht auf das Prozessgrundrecht des Betroffenen auf ein faires Verfahren als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG), zu dem auch die Möglichkeit einer effektiven Verteidigung gehört, ist der hiermit notwendig verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht anderer Verkehrsteilnehmer von vergleichsweise geringer Intensität und hinzunehmen.

In diesem Zusammenhang kann sich die Verwaltungsbehörde insbesondere auch nicht – wie zuletzt in anderen Verfahren zu beobachten war – unter pauschale Berufung auf vermeintliche datenschutzrechtliche Erwägungen aus der Verantwortung ziehen und den Betroffenen schlicht darauf zu verweisen, zunächst ein kostenträchtiges gerichtliches Verfahren anzustrengen, um dann über das Gericht Einsicht in den Messfilm zu bekommen. Eine derartige Verwaltungspraxis führt vielfach zu einer vermeidbaren Anrufung des Gerichts und ist für den Betroffenen unzumutbar. Betrachtet man die Rechtsprechung zu der Frage, ob dem Verteidiger im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Einsicht in den von der Geschwindigkeitsmessung vorliegenden Messfilm bzw. Messdateiserie zu gewähren ist, ist festzustellen, dass diese Frage im Sinne des Betroffenen als geklärt anzusehen ist (siehe nur OLG Oldenburg, Beschl. 06.05.2015 – 2 Ss (OWi) 65/15;  AG Bergisch Gladbach, a.a.O.; AG Königs Wusterhausen, Beschl. v. 17.03.2015 – 2.4 OWi 282/14; AG Fritzlar, a.a.O.; AG Stuttgart, Beschl. v. 01.04.2014  – 11 OWi 575/14; AG Duderstadt, a.a.O.; AG Luckenwalde, Beschl. v. 07.10.2013 – 28 OWi 122/13; AG Ulm, a.a.O.; AG Schleiden, Beschl. 23.10.2012 – 13 OWi 140/12 (b); AG Cottbus, a.a.O. sowie Beschl. v. 17.06.2008 – 67 OWi 1611 Js-OWi 17966/08 (174/08); AG Stuttgart, Beschl. v. 29.12.2011  – 16 OWi 3433/11; AG Heidelberg, Beschl. v. 31.10.2011 – 3 OWi 510 Js 22198/11; AG Senftenberg, a.a.O.). Angesichts dessen grenzt die unzulässige Beschränkung der Verteidigung durch die Nichtherausgabe kompletter Messreihen durch die Verwaltungsbehörde an eine bewusste Rechtsverweigerung, die abzustellen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 62 II 1 OWiG i. V. m. § 467 I StPO.