Auch beim AG Ahrensburg erhalten Verteidiger teilweise Einsicht in Unterlagen, die die Verwaltungsbehörde nicht offenlegen wollte: Bezüglich der Messreihe sollen laut Gericht nach Einholung einer sachverständigen Stellungnahme allerdings jeweils 50 Datensätze zu Beginn und Ende der Messreihe und jeweils 50 Datensätze vor und nach der gegenständlichen Messung genügen, um diese zu überprüfen. Anhand der Bedienungsanleitung könne die Verteidigung nachvollziehen, ob die Messbeamten bei dem Aufbau und der Inbetriebnahme des Messgerätes entsprechend den Vorgaben vorgegangen sind. Schließlich sei auch eine Prüfung der verkehrsrechtlichen Anordnung zu ermöglichen, denn sollte diese nicht existieren, würde es sich bei den Verkehrszeichen um einen nichtigen Verwaltungsakt handeln und der Betroffene wäre nicht verpflichtet gewesen, sich an die ausgeschilderte Höchstgeschwindigkeit zu halten.
AG Ahrensburg, Beschluss vom 05.10.2021 – 520 E OWi 173/21
Dem Verteidiger sind von der Verwaltungsbehörde auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 28.5.2021, bei Gericht eingegangen am 16.7.2021 200 weitere Falldatensätze der betreffenden Messreihe, und zwar die ersten 50 Falldatensätze der Messreihe, die letzten 50 Falldatensätze der Messreihe sowie die 50 Falldatensätze, die der konkreten, das Verfahren betreffenden Messdatei unmittelbar vorausgehen und die 50 Falldatensätze, die der konkreten Messung unmittelbar nachfolgen, zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen.
Dem Verteidiger sind auf seinen Antrag die Bedienungsanleitung für das verwendete Messgerät vom Typ Poliscan FM 1, Softwareversion 4.4.9 und die verkehrsrechtliche Anordnung für die Verkehrszeichen 274 „120 km/h“ auf der A 1 in Fahrtrichtung Puttgarden bei Kilometer 10,0 zur Verfügung zu stellen.
Im Übrigen (hinsichtlich der weiteren Antragspunkte) wird der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet verworfen.
Gründe:
Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Anspruch auf Einsichtnahme in die Falldatensätze der Messreihe ergibt sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfG, Entscheidung vom 12.11.2020, 2 BVR 1616/18). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert der genannten Entscheidung zufolge „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen andererseits. Ein Betroffener im Bußgeldverfahren hat deshalb ebenso wie ein Beschuldigter im Strafverfahren ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann (BVerfG a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dabei ist entscheidend, ob der Verteidiger eine Information in verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Dabei darf die Verteidigung grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungchance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierten Messverfahren grundsätzlich entbunden sind (BVerfG a.a.O.). Die Falldatensätze der konkreten Messreihe vom Tattag stehen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem gegen den Betroffenen erhobenen Ordnungswidrigkeitenvorwurf. Zu Recht hält die Verteidigung die Überprüfung weiterer Falldatensätze der Messreihe neben dem konkreten Falldatensatz für bedeutsam. Die Verteidigung hat hierzu vorgetragen, dass ein mit der Überprüfung der Messung beauftragter Sachverständiger neben der konkreten Falldatei weitere Datensätze der Messung überprüft, um zum Beispiel Standortveränderungen des Messgerätes feststellen zu können. Der dem Betroffenen vorgeworfene Geschwindigkeitsverstoß basiert auf einer Messung mit einem Messgerät vom Typ Poliscan FM 1. Nach einer vom Gericht eingeholten allgemeinen Stellungnahme des technischen Sachverständigen I. von der DEKRA Hamburg vom 31.5.2021 sind weitere Datensätze vor und nach dem konkreten Datensatz notwendig, um anhand einer möglichen Veränderung des Schwenkwinkels feststellen zu können, ob die Position des Messgerätes verändert worden ist, was eine fehlerhafte Messung zur Folge hätte. Der Stellungnahme des Sachverständigen zufolge ist es notwendig, 50 Messungen vor und 50 Messungen nach dem konkreten Datensatz anzuschauen, um eine mögliche Änderung des Schwenkwinkels, die zu einer fehlerhaften Messung führen kann, zu überprüfen. Weiterhin hält es der Sachverständige für erforderlich, jeweils weitere 50 Datensätze vom Beginn und vom Ende der Messreihe zu erhalten, um überprüfen zu können, ob eine langsame Änderung des Schwenk- und Neigungswinkels des Messgeräts innerhalb der Messreihe durch die Änderung von Aufstellbedingungen erfolgt ist. Den Ausführungen des Sachverständigen I. zufolge könnte eine Veränderung der Position des Messgerätes zur ursprünglichen Position nicht nur zu einer möglichen fehlerhaften Ermittlung der Geschwindigkeit führen, sondern auch zu einer möglichen Fehlzuordnung des Messwertes zu einem Fahrzeug, da die Position des Auswerterahmens an die in das Messgerät eingegebenen Werte und die damit verbundenen örtlichen Bedingungen gekoppelt sei. Auch wenn die Verwaltungsbehörde oder das im weiteren Verlauf des Verfahrens ggf. mit der Sache befasste Gericht eine sachverständige Überprüfung der Messung unter Heranziehung weiterer Falldateien der Messreihe aufgrund des standardisierten Messverfahrens nicht für erforderlich halten sollte, hat der Betroffene über seinen Verteidiger das Recht auf Zugang zu weiteren Datensätzen der Messreihe. Das Recht auf Einsichtnahme besteht in dem im Tenor aufgeführten Umfang. Nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Mit der Möglichkeit der Einsichtnahme in mindestens 201 Falldatensätze (der konkrete Falldatensatz wurde bereits zur Verfügung gestellt) hat die Verteidigung bzw. ein von ihr beauftragter technischer Sachverständiger die Möglichkeit einer umfassenden Überprüfung der Messung. Einer Einsichtnahme in mehrere tausend Falldatensätze bedarf es für die Überprüfung nicht. Datenschutzrechtliche Gründe, die der Einsichtnahme in die 201 Falldatensätze entgegenstehen könnten, sind für das Gericht nicht ersichtlich. Denn sowohl der Verteidiger als auch ein von ihm beauftragter Sachverständiger sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Soweit der Verteidiger die Einsichtnahme in die verkehrsrechtliche Anordnung der Beschilderung begehrt, ist der zulässige Antrag ebenfalls begründet. Um die Erfolgsaussichten eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid zu prüfen, ist es notwendig, dass die Verteidigung überprüfen und nachvollziehen kann, ob eine verkehrsrechtliche Anordnung existiert und damit zu überprüfen, ob es sich bei den aufgestellten Verkehrszeichen um einen wirksamen Verwaltungsakt handelt. Gäbe es keine verkehrsrechtliche Anordnung, so würde es sich bei den Verkehrszeichen um einen nichtigen Verwaltungsakt handeln und der Betroffene wäre nicht verpflichtet gewesen, sich an die ausgeschilderte Höchstgeschwindigkeit zu halten.
Soweit der Verteidiger die Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgerätes des verwendeten Messgeräts begehrt, ist der zulässige Antrag ebenfalls begründet. Um die Erfolgsaussichten eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid zu prüfen, ist es notwendig, dass die Verteidigung überprüfen und nachvollziehen kann, ob die Messbeamten bei dem Aufbau und der Inbetriebnahme des Messgerätes entsprechend der Bedienungsanleitung vorgegangen sind. Zwar ist dem Verteidiger von der Bußgeldbehörde bereits eine Bedienungsanleitung für das verwendete Messgerät zur Verfügung gestellt worden. Diese betrifft aber nicht die hier verwendete Softwareversion 4.4.9. Da diese Version bei der konkreten Messung zum Einsatz kam, ist auch die entsprechende Bedienungsanleitung zur Verfügung zu stellen.
Im Übrigen ist der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung unbegründet. Ein Standort- und Erstinbetriebnahmeprotokoll wird nach der Mitteilung des Landespolizeiamtes vom 7.5.2021 (Bl. 31 f. d.A.) nicht geführt, weil dies nicht vorgegeben sei. Die Verteidigung hat keinen Anspruch auf Einsichtnahme in Unterlagen, die es nicht gibt. Inwieweit sich das Vorhandensein einer Verwendungsanzeige auf die Ordnungsgemäßheit oder Verwertbarkeit der Messung auswirken könnte, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die Konformitätsbescheinigung und die Baumusterprüfbescheinigung sind der Verteidigung zur Verfügung gestellt worden. Entgegen der Auffassung der Verteidigung im Schriftsatz vom 26.7.2021 handelt es sich um die korrekten Bescheinigungen für das verwendete Messgerät, da weder die Baumusterprüfbescheinigung der PTB noch die Konformitätserklärung neu erteilt werden, wenn eine neue Software auf das Messgerät aufgespielt wird. Dass die Baumusterprüfbescheinigung nach wie vor Geltung hat, ergibt sich auch aus dem Eischein Bl. 5 f. d.A., in dem auf die Baumusterprüfbescheinigung Bezug genommen wird. Aus dem Eichschein Bl. 5 f. d.A. ergibt sich ebenfalls, dass das verwendete Messgerät im Zeitpunkt der Eichung bereits mit der hier verwendeten Softwareversion 4.4.9 ausgestattet war.
Eine Kostenentscheidung ist nicht statthaft.
Die Entscheidung ist unanfechtbar.
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