Das AG als erkennendes Gericht hatte einen Antrag auf Einsicht in Unterlagen zu einer Geschwindigkeitsmessung (Token-Datei, Passwort, Lebensakte, Gebrauchsanweisung, verkehrsrechtliche Anordnung, Konformitätsbescheinigung, Verträge mit Privatfirma) zunächst abgelehnt. Einer dagegen gerichteten Beschwerde half es jedoch ab und wies die Verwaltungsbehörde zur Herausgabe der Unterlagen an.

AG Bühl, Beschluss vom 29.10.2020 – 1 OWi 308 Js 12185/20

Auf die Beschwerde des Verteidigers, Herr Rechtsanwalt Gratz gegen die Verfügung des Amtsgerichts Bühl vom 10.09.2020, wird diese Verfügung aufgehoben und die zuständige Verwaltungsbehörde, Stadt Bühl, angewiesen, dem Betroffenen folgende Unterlagen, Daten und Informationen zur Verfügung zu stellen:

– Token-Datei und Passwort für die Messreihe der Geschwindigkeitsmessung vom 11.06.2020,
– Lebensakte des Geschwindigkeitsüberwachungsgeräts, POLISCAN FM1 Nr. 953973, hilfsweise
für den Fall, dass eine solche nicht geführt wird, unter Beifügung geeigneter Unterlagen, Auskunft darüber zu erteilen, welche Wartungs- und/oder Reparaturarbeiten an dem oben bezeichneten Gerät in der Zeit zwischen dem 16.04.2019 (letzte Eichung) und dem 11.06.2020 (Tattag) vorgenommen worden sind,
– Gebrauchsanweisung für das Messgerät POLISCAN FM3 und Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren,
– verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung,
– Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit mit dem Dienstleister ERA GmbH & Co. KG, betreffend die Geschwindigkeitsmessung vom 11.06.2020 oder eine substantielle Erklärung der Verwaltungsbehörde, Stadt Bühl hierzu.

Es wird der Verwaltungsbehörde freigestellt, ob sie die genannten Unterlagen direkt an den Verteidiger des Betroffenen auf einem geeigneten Speichermedium übermittelt oder diese dem Gericht zukommen lässt.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig.

Die Verfügung vom 10.09.2020 ist tauglicher Beschwerdegegenstand nach § 304 StPO. Insbesondere steht deren Anfechtung auch nicht § 305 S. 1 StPO entgegen. Nach dieser Norm werden die der Urteilsfällung vorausgehenden Entscheidungen des erkennenden Gerichts der Beschwerde entzogen, um dadurch das Verfahren zu beschleunigen und zu konzentrieren. Diese Verfahrensbeschleunigung ist aber nur dann sachgerecht, wenn der Betroffene die Entscheidung des Gerichts nachträglich durch die Einlegung eines Rechtsmittels überprüfen lassen kann und die Beschwerde daher nicht die einzige Möglichkeit der Überprüfung für ihn darstellt. Daher lässt die Norm Ausnahmefälle von diesem Grundsatz zu, wenn die Beschwer des Betroffenen durch Anfechtung des Urteils nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. Zabeck in Karlsruher Kommentar, 8. Auflage 2019, § 305 StPO, Rn. 12 = beck-online).

Gegen den Betroffenen wurde am 22.07.2020 ein Bußgeldbescheid erlassen und in diesem ein Bußgeld in Höhe von 70,00 EUR festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid wurde am 30.07.2020 Einspruch eingelegt. Im Falle einer Verurteilung ist nach Aktenlage zu erwarten, dass ein Urteil im Raum stehen wird, das nicht mit der Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 1 OWiG angreifbar wäre, sondern eine Überprüfung lediglich erfolgen könnte, wenn unter den engen Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG die Rechtsbeschwerde auf Antrag hin zugelassen würde. Es besteht daher das Risiko, dass der Betroffene keine Möglichkeit hat, mit der Rechtsbeschwerde die Nichtherausgabe der angeforderten Dokumente zu rügen. Ihm ist daher die Überprüfung der Verfügung des Amtsgerichts Bühl vom 10.09.2020 im Wege des Beschwerdeverfahrens zu ermöglichen.

Auch in der Sache hat die Beschwerde Erfolg. Ihr war daher abzuhelfen und die ursprüngliche Verfügung des Amtsgerichts Bühl vom 10.09.2020 war aufzuheben.

Die zugrundeliegende Geschwindigkeitsmessung wurde mittels eines standardisierten Messverfahrens durchgeführt, bei dem durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) im Wege eines antizipierten Sachverständigengutachtens die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt wurde. Bei einem standardisierten Messverfahren ergibt sich der Anspruch auf Akteneinsicht über die bei der Akte befindlichen Aktenbestandteile hinaus aus dem Gebot des fairen Verfahrens, welches selbst wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG iVm dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK folgt. Aus dem Gebot ergibt sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch das Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a., welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgehen kann, wenn dadurch die “Parität des Wissens” bzw. der “Waffengleichheit”, gegenüber der Verwaltungsbehörde hergestellt wird. Bei Geschwindigkeitsverstößen, welche mittels standardisierten Messverfahren festgestellt werden, muss der Betroffene, wenn er die Richtigkeit der Messung angreifen will, im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte darlegen, die für eine Unrichtigkeit der Messung sprechen. Eine pauschale Behauptung, mit der die Richtigkeit der Messung angezweifelt wird, genügt nicht.

Um die Geschwindigkeitsmessung daher auswerten und umfassend auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, benötigt der Betroffene Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen. Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019-1 Rb 10 Ss 291/19 = beck-online, NStZ 2019, 620)

Um diese Parität des Wissens herzustellen, wird die Verwaltungsbehörde daher zu der Übermittlung der folgenden Unterlagen an den Betroffenen über seinen Verteidiger angewiesen:

1.) Token-Datei und Passwort für die Messreihe der Geschwindigkeitsmessung vom 11.06.2020. Die Verwaltungsbehörde, Stadt Bühl, hat die Messreihe im Vorfeld bereits dem Gericht zur Verfügung gestellt und dieses hat dem Verteidiger daraufhin Akteneinsicht gewahrt. Ohne die Token-Datei und das Passwort ist dem Betroffenen die Auswertung der Messreihe jedoch nicht möglich.

2.) Lebensakte des Geschwindigkeitsüberwachungsgeräts, POLISCAN FM1 Nr. 953973, hilfsweise für den Fall, dass eine solche nicht geführt wird, unter Beifügung geeigneter Unterlagen, Auskunft darüber zu erteilen, welche Wartungs- und/oder Reparaturarbeiten an dem oben bezeichneten Gerät in der Zeit zwischen dem 16.04.2019 (letzte Eichung) und dem 11 .06.2020 (Tattag) vorgenommen worden sind. Soweit Einsicht in Wartungs- und Instandsetzungsnachweise seit der ersten Inbetriebnahme beantragt wurde, besteht dagegen kein Anspruch. Eine Aufbewahrungspflicht für Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät folgt aus § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG lediglich für zwischen den jeweiligen Eichungen durchgeführte Wartungen, Reparaturen und sonstigen Eingriffen.

3.) Gebrauchsanweisung für das Messgerät POLISCAN FM3 und Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren. Eine Gebrauchsanweisung hat die Verwaltungsbehörde der Verteidigung im Vorfeld bereits überlassen, jedoch lediglich zu dem sogenannten Messanhänger (enforcement-Trailer). Es besteht jedoch auch ein Anspruch auf Überlassung der Gebrauchsanweisung für das eigentliche Messgerät selbst. Weiter sind auch die Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren erforderlich, um überprüfen zu können, ob das Messverfahren entsprechend den Grundlagen im Zulassungsschein der PTB erfolgt ist. Diese sind daher ebenfalls dem Verteidiger zur Verfügung zu stellen.

4.) Verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung. Anhand dieser kann überprüft werden, ob die verkehrsrechtliche Anordnung formell oder materiell rechtswidrig war.

5.) Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit mit dem Dienstleister ERA GmbH & Co. KG betreffend die Geschwindigkeitsmessung vom 11 .06.2020, oder eine substantielle Erklärung der Verwaltungsbehörde, Stadt Bühl hierzu, damit der Betroffene prüfen kann, ob die Grenzen einer Beteiligung von Privatunternehmen bei der konkreten Messung eingehalten wurden.

Diese Grenzen der Beteiligung von Privatunternehmen im Rahmen von Verkehrsverstößen wurden von der obergerichtliehen Rechtsprechung vorgegeben (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 28.4.2016 – 2 Ss-OWi 190/16: beck-online, NStZ-RR 2016, 322 m.w.N.).

Mitgeteilt von Rechtsanwälte Zimmer-Gratz, Bous.