Vor dem auf dem linken Fahrstreifen einer Autobahn befindlichen Klägerfahrzeug fuhren zwei weitere Fahrzeuge, welche sich nacheinander jeweils rechts überholten. Eines der Fahrzeuge wechselte unmittelbar nach dem Rechtsüberholen so auf die linke Spur, dass das andere Fahrzeug ebenso wie das dahinter fahrende Klägerfahrzeug zu einer Vollbremsung gezwungen wurden. Das Fahrzeug des Erstbeklagten fuhr auf das Klägerfahrzeug auf und schob dieses auf das davor befindliche Fahrzeug, wobei das Klägerfahrzeug an Front und Heck beschädigt wurde.
Hinsichtlich des Heckschadens am Klägerfahrzeug ging das AG von einem Anscheinsbeweis aus, welcher gegen den auffahrenden Beklagten spreche. Das LG Saarbrücken bestätigt die Auffassung, dass bei einem Kettenauffahrunfall ein Anscheinsbeweis gegen den Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs nur hinsichtlich des Heckschadens, nicht aber des Frontschadens seines Vordermanns spricht, da es an einem typischen Geschehensablauf fehle. Allerdings sei dem Geschädigten gegebenenfalls eine Beweiserleichterung zu gewähren: Wenn ein Aufschieben des mittleren Fahrzeugs deutlich wahrscheinlicher ist als die Möglichkeit, dass dessen Fahrer durch eigenes Verhalten auf das vordere Fahrzeug aufgefahren ist, sei der Hintermann für den gesamten Schaden am mittleren Fahrzeug verantwortlich. Bei etwa gleicher Wahrscheinlichkeit sei der Gesamtschaden quotenmäßig aufzuteilen, während, wenn ein Aufschieben weniger wahrscheinlich erscheint als ein bloßes Auffahren des Vordermanns, der Hintermann nur für den ihm sicher zurechenbaren Heckschaden hafte. Vorliegend konnte der Sachverständige allerdings definitiv angeben, dass das letzte Fahrzeug die anderen Fahrzeuge ineinander geschoben haben muss.
LG Saarbrücken, Urteil vom 07.09.2018 – 13 S 43/17
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 14.02.2017 – 5 C 441/16 (03) – teilweise abgeändert und die Beklagten werden als Gesamtschuldner unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, an die Klägerin 1.737,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.03.2016 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 78,89 € zu zahlen. Die Berufung im Übrigen wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30.04.2015 auf der BAB … in Höhe des Rastplatzes … in Fahrtrichtung … ereignet hat.
Der Ehemann der Klägerin, der Zeuge …, fuhr mit dem klägerischen Fahrzeug, einem VW Passat, auf der linken Fahrspur der Autobahn. Vor ihm auf der linken Spur fuhren ein Mercedes der C-Klasse und ein BMW der 7-er Reihe, der von dem Zeugen … gelenkt wurde. Der Zeuge … hatte zuvor mit seinem BMW den Mercedes rechts überholt und war vor diesem wieder auf die linke Fahrspur gewechselt. Der Fahrer des Mercedes überholte in der Folge das Fahrzeug des Zeugen … ebenfalls rechts und wechselte unmittelbar davor auf die linke Spur, so dass der Zeuge … zu einer Vollbremsung gezwungen wurde. Der Zeuge … führte beim klägerischen Fahrzeug ebenfalls eine Vollbremsung durch, wodurch der Erstbeklagte mit seinem Fahrzeug, einem Opel Corsa, auf das Heck des klägerischen Fahrzeugs auffuhr. Das klägerische Fahrzeug fuhr wiederum auf das Heck des BMW des Zeugen … auf. Das klägerische Fahrzeug erlitt Schäden im Heck- und im Frontbereich. Der Fahrer des Mercedes entfernte sich vom Unfallort, ohne dass seine Identität geklärt werden konnte.
Der von der Klägerin beauftragte Schadensgutachter ermittelte Reparaturkosten für die Behebung des Front- und Heckschadens in Höhe von 8.577,16 € netto bei einem Wiederbeschaffungswert von 4.100,- € und einem Restwert von 450,- €. Die Klägerin hat vorgerichtlich Ersatz des Wiederbeschaffungsaufwands (3.650,- €), Nutzungsausfall (354,- €), Mietwagenkosten (1.023,18 €), Abmeldekosten (7,70 €), Taxikosten (55,- €), Kosten für zwei Kindersitze (224,- €), für einen Fahrradanhänger (320,- €), Schmerzensgeld von 500,- €, Sachverständigenkosten (745,13 €), Abschleppkosten (565,34 €) und eine Unkostenpauschale (25,- €), mithin insgesamt 7.469,35 € geltend gemacht. Die Zweitbeklagte hat die Kosten für das Taxi und das Schmerzengeld in voller Höhe reguliert und die übrigen Schadenspositionen auf der Grundlage einer Haftungsquote von 80%. Dabei hat sie für Sachverständigenkosten lediglich 665,- € und für Abschleppkosten 522,51 € angesetzt und eine Entschädigung für den Fahrradanhänger abgelehnt. Insgesamt hat die Zweitbeklagte 5.688,84 € für den Unfallschaden der Klägerin und 650,34 € an außergerichtlichen Anwaltskosten gezahlt.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin den nicht regulierten Teil ihres Schadens in Höhe von 1.780,50 € nebst Zinsen und weitere vorgerichtliche Anwaltskosten geltend gemacht. Sie hat behauptet, ihr Ehemann habe das klägerische Fahrzeug rechtzeitig abbremsen können und sei dann aus dem Stillstand heraus von dem Beklagtenfahrzeug auf das Fahrzeug des Zeugen … aufgeschoben worden. Bei dem Unfall sei der Fahrradanhänger im Wert von 320,- € irreparabel beschädigt worden.
Die Beklagten haben zur Begründung ihres Klageabweisungsantrages behauptet, das klägerische Fahrzeug sei ohne Mitwirkung des Beklagtenfahrzeugs zuerst auf das Heck des BMW des Zeugen … aufgefahren. Dadurch sei der Bremsweg des Erstbeklagten erheblich verkürzt worden und es sei zum Auffahren des Beklagtenfahrzeugs auf das klägerische Fahrzeug gekommen.
Das Amtsgericht Saarbrücken, an das der Rechtsstreit verwiesen wurde, hat nach Beweisaufnahme der Klage in Höhe von 368,68 € in der Hauptsache stattgegeben. Zur Begründung hat der Erstrichter im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe nicht den Nachweis erbracht, dass auch der Frontschaden an ihrem Fahrzeug allein auf den Heckanstoß durch das Beklagtenfahrzeug zurückzuführen sei.
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der die Klägerin ihren Anspruch im Umfang der Klageabweisung weiter verfolgt. Sie rügt die Beweiswürdigung des Erstgerichts.
Die Beklagten verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung.
Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten des Sachverständigen … vom 27.02.2018 und vom 26.06.2018 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet.
1. Zu Recht ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch die Klägerin grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Auf die Frage, ob der Zeuge … das klägerische Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen gebracht hat und erst durch den Heckanstoß des Beklagtenfahrzeugs auf das Fahrzeug des Zeugen … aufgeschoben worden ist, kommt es insoweit nicht an. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Idealfahrer an Stelle des Zeugen … bereits im Vorfeld durch ein rechtzeitiges Herabsetzen der Geschwindigkeit oder einen größeren Abstand zu dem BMW des Zeugen … und dem Mercedes, die sich wechselseitig rechts überholt hatten, oder ggfl. durch einen frühzeitigen Wechsel auf die rechte Fahrspur eine Vollbremsung hätte vermeiden und dadurch den Unfall mit dem Erstbeklagten verhindern können. Diese Zweifel gehen zulasten der Klägerin (BGH, st. Rspr.; vgl. nur Urteile vom 13.05.1969 – VI ZR 270/67, VersR 1969, 827 und vom 13.12.2005 – VI ZR 68/04, VersR 2006, 369).
2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG ist der Erstrichter davon ausgegangen, dass der Erstbeklagte die Kollision mit dem klägerischen Fahrzeug durch einen Verstoß gegen die Pflicht zur Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes verursacht hat (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO; zum Sicherheitsabstand auf Autobahnen vgl. nur BGH, Urteil vom 09.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358). Dies steht in der Berufung nicht im Streit.
3. Auch soweit der Erstrichter aufgrund des Verkehrsverstoßes des Erstbeklagten von einer Alleinverantwortung der Beklagten hinsichtlich des Heckanstoßes und einer Alleinhaftung der Beklagten für den dadurch eingetretenen Heckschadens am klägerischen Fahrzeug ausgegangen ist, wird dies von den Parteien in der Berufung hingenommen. Allerdings wendet sich die Klägerin mit Erfolg gegen die Feststellung des Erstrichters, hinsichtlich des an ihrem Fahrzeug eingetretenen Frontschadens könne lediglich eine hälftige Haftungsverteilung vorgenommen werden.
a) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung und der herrschenden Auffassung in der Literatur, dass bei Kettenauffahrunfällen – wie hier – hinsichtlich der Verursachung des Frontschadens an dem Fahrzeug, auf das das Fahrzeug des Hintermannes aufgefahren ist, der im Übrigen zulasten des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis einer schuldhaften Schadensverursachung keine Anwendung findet. Dies wird damit begründet, dass bei Kettenauffahrunfällen jedenfalls hinsichtlich der Verursachung des Frontschadens kein ausreichend typischer Geschehensablauf feststellbar ist (vgl. OLG Hamm, NJW 2014, 3790; OLG München, Urteil vom 12.05.2017 – 10 U 748/16, juris; OLG Düsseldorf, NZV 1995, 486 sowie Urteil vom 12.06.2006 – I-1 U 206/05, juris; Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn. 148; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 4 StVO Rn. 46; Scholten in: Freymann/Wellner aaO § 830 BGB Rn. 43; Böhme/Biela/Tomson, Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden, 26. Aufl., Rn. 198; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl., § 4 Rn. 24; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 4 StVO Rn. 36). Allerdings gewährt die Rechtsprechung dem Geschädigten in diesen Fällen eine Beweiserleichterung nach § 287 ZPO (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.1973 – VI ZR 101/71, NJW 1973, 1283). Insoweit gilt:
aa) Kann der Geschädigte Tatsachen nachweisen, aus denen sich die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Verursachung des Frontschadens durch den Hintermann ergibt, ist mithin ein Aufschieben deutlich wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten (Auffahren auf den Vordermann) den Frontschaden an seinem Fahrzeug selbst verursacht hat, ist der Hintermann für den gesamten (Heck- und Front-)Schaden des mittleren Fahrzeugs (mit)verantwortlich (vgl. BGH aaO; OLG Schleswig, NZV 1988, 228; OLG Düsseldorf, NZV 1995, 486; OLG Hamm, Schaden-Praxis 1999, 331; LG Köln, Urteil vom 10.11.2004 – 9 S 237/04, Schaden-Praxis 2005, 44; Lemcke, Der Verkehrsunfall mit mehreren Beteiligten, DAV-Skript, 2008, S. 88 f.).
bb) Ist die Verursachung des Frontschadens durch den Auffahrenden nicht weniger wahrscheinlich als die Entstehung des Frontschadens unabhängig vom Heckanstoß, kann der gegen den Auffahrenden begründete Schadensersatzanspruch betreffend den Heckanstoß im Totalschadensfall nach § 287 ZPO durch die quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens, gemessen am Verhältnis der jeweiligen Reparaturkosten, ermittelt werden (vgl. BGH aaO; OLG Düsseldorf, NZV 1995, 486; OLG Hamm, NJW 2014, 3790).
cc) Ist demgegenüber die ursächliche Beteiligung des Hintermannes an dem Frontschaden weniger wahrscheinlich als die Entstehung des Frontschadens unabhängig vom Heckanstoß, haftet der Hintermann nur für den ihm sicher zurechenbaren Heckschaden (vgl. OLG Düsseldorf, NZV 1995, 486; OLG Hamm, Schaden-Praxis 2010, 351).
b) Hiervon ausgehend haften die Beklagten im Streitfall auch für den Frontschaden am klägerischen Fahrzeug in vollem Umfang. Denn nach den unangegriffenen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen wäre es ohne einen zeitlich früheren Anstoß durch das Beklagtenfahrzeug nicht zu einem Auffahren des klägerischen Fahrzeugs auf das Fahrzeug des Zeugen … gekommen, weshalb auch der Frontschaden am Klägerfahrzeug definitiv alleine aus dieser Erstkollision zwischen Beklagtenfahrzeug und Klägerfahrzeug und aus einer hiermit einhergehenden Beschleunigung bzw. Geschwindigkeitserhöhung des klägerischen Fahrzeugs entstanden ist.
4. Haften die Beklagten danach für den gesamten am Klägerfahrzeug entstandenen Schaden, kann die Klägerin, nachdem am Klägerfahrzeug ein Totalschaden eingetreten ist, von den Beklagten Ersatz des gesamten geltend gemachten Wiederbeschaffungsaufwands in Höhe von 3.650,- € verlangen. Auf der Grundlage der nicht angegriffenen Feststellungen des Erstgerichts ergibt sich insoweit folgende Schadensabrechnung:
Wiederbeschaffungsaufwand 3.650,00 €
Kindersitze 224,00 €
Fahrradanhänger 320,00 €
Abschleppkosten 522,51 €
Sachverständigenkosten 745,13 €
Nutzungsausfall 354,00 €
Mietwagenkosten 1.023,18 €
Taxikosten 55,00 €
Kosten für Abmeldung 7,70 €
Schmerzensgeld 500,00 €
Unkostenpauschale 25,00 €Gesamt 7.426,52 €
./. gezahlter 5.688,84 €Verbleiben 1.737,68 €
5. Der Kläger kann schließlich nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB Ersatz seiner vorgerichtlichen Anwaltskosten aus dem berechtigten Gesamtanspruch ersetzt verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 20.05.2014 – VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Ihm steht insoweit gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV Anspruch auf Ersatz einer 1,3-Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 27.05.2014 – VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) zzgl. Pauschale und MwSt. in Höhe von insgesamt 729,23 € zu. Es verbleibt unter Anrechnung der insoweit geleisteten Zahlung der Beklagten von 650,34 € ein Restanspruch von 78,89 €.
Der Zinsausspruch folgt aus §§ 286, 288, 291 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 100 Abs. 4 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).
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