Das OLG München hat entschieden, dass der Grundsatz, wonach ein Geschädigter bei einem Totalschaden die voraussichtlichen Reparaturkosten zzgl. einer etwaigen Wertminderung erstattet verlangen kann, wenn diese Summe den Wiederbeschaffungswert um nicht mehr als 30 % übersteigt, auch bei Rennrädern gilt. Ein Grund, bei Fahrrädern, welche ebenfalls wie Kraftfahrzeuge eine stetige technische Weiterentwicklung vollziehen, die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für Kraftfahrzeuge nicht anzuwenden, existiere nicht.
OLG München, Urteil vom 16.11.2018 – 10 U 1885/18
1. Auf die Berufung der Beklagten vom 01.06.2018 wird das Endurteil des LG Traunstein vom 11.05.2018 (Az. 5 O 2804/16) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 24.08.2016 zu zahlen.
II. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 83,54 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 24.08.2016 zu zahlen.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Von den Kosten des Rechtsstreits (erster Instanz) tragen der Kläger 96 % und die Beklagten gesamtschuldnerisch 4 %.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das vorgenannte Urteil des Landgerichts sowie dieses Urteil sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
I. Mit der Berufung greifen die Beklagten nur die vom Landgericht zugesprochenen Reparaturkosten in Höhe von 2.332,85 € an. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Erstattung der Reparaturkosten bejaht.
1. Bei dem Unfall wurde der Kläger verletzt und sein Fahrrad beim Zusammenstoß mit dem zum Unfallzeitpunkt von der Beklagten zu 2) geführten Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen … beschädigt. Der Beklagte zu 1) ist der Halter und die Beklagte zu 3) die Haftpflichtversicherung des Fahrzeugs. Deshalb kommt grundsätzlich ein Anspruch des Klägers aus § 7 I StVG i. Verb. m. § 115 I 1 Nr. 1 VVG und, soweit ein Verschulden der Beklagten zu 2) vorliegen sollte, aus § 823 I BGB in Betracht. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist zwischen den Parteien unstreitig.
2. Der Kläger begehrt die Erstattung von aufgrund des Kostenvoranschlages vom 18.09.2015 (vgl. Anlage K1) ermittelten Reparaturkosten in Höhe von insgesamt 3.832,85 €. Da die Beklagten lediglich auf Totalschadensbasis abrechnen wollen (vgl. Tatbestand Ersturteil S. 3= Bl. 148 d.A.), ist damit die vom Kläger gewollte Abrechnung auf Reparaturbasis und deren tatsächliche Grundlagen bestritten. Die Beklagten haben in der Klagerwiderung ein Kurzgutachten des Sachverständigen Sch. vorgelegt sowie vorgetragen, dass am klägerischen Fahrrad ein Totalschaden eingetreten sei und der Kläger auf Totalschadenbasis abrechnen müsse (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert). Dieser Sachvortrag wurde unter Beweis gestellt durch Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Der Senat hat deshalb zur Abklärung der Angemessenheit der vom Kläger in der Klageschrift Bl. 4 geltend gemachten Reparaturkosten in Höhe von 3.832,85 € sowie zur Berechnung des Wiederbeschaffungswertes und Restwertes des streitgegenständlichen Fahrrads ergänzende Feststellungen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO) getroffen und hierzu den Kläger sowie den Sachverständigen Dipl.-Ing. Albert S. in der Sitzung vom 16.11.2018 zur Erstattung eines mündlichen Gutachtens angehört.
Nach der Anhörung des Sachverständigen ist der Senat davon überzeugt, dass aufgrund des streitgegenständlichen Unfallereignisses beim Fahrrad des Klägers ein wirtschaftlicher Totalschaden eingetreten ist. Im Einzelnen:
a) Grundsätzlich kann ein Geschädigter im Totalschadensfalle ausnahmsweise die voraussichtlichen Reparaturkosten zzgl. einer etwaigen Wertminderung erstattet verlangen, wenn diese Summe den Wiederbeschaffungswert um nicht mehr als 30 % übersteigt (BGH VersR 1992,61; BGH r+s 2003, 303; r+s 2005, 172; r+s 2009, 434; r+s 2010, 128; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. A., § 249 BGB, Rn. 65). Maßgeblich für die Berechnung ist grundsätzlich die Reparaturkostenkalkulation des Sachverständigen, nicht der schlussendlich tatsächlich angefallene Reparaturaufwand. Der Restwert des Fahrzeuges wird bei dieser Berechnung nicht berücksichtigt. Grundlage dieser Rechtsprechung ist das besondere Integritätsinteresse des Geschädigten. Damit soll faktisch sichergestellt sein, dass das Eigentum des Geschädigten für den Bedarfsfall in seiner konkreten Zusammensetzung und nicht nur dem Wert nach erhalten bleiben kann. Der Reparaturkostenersatz erfolgt allerdings nur nach tatsächlich durchgeführter, fachgerechter Reparatur im Umfange des Sachverständigengutachtens (BGH DAR 2005, 266), jedenfalls aber in einem Umfang, der den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigt (BGH DAR 2005, 268 [269]). Eine Teilreparatur ist nicht ausreichend. Setzt der Geschädigte nach einem Unfall sein Kraftfahrzeug nicht vollständig und fachgerecht in Stand, ist regelmäßig die Erstattung von Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert nicht gerechtfertigt. Im Hinblick auf den Wert der Sache wäre eine solche Art der Wiederherstellung im Allgemeinen unvernünftig und kann dem Geschädigten nur ausnahmsweise im Hinblick darauf zugebilligt werden, dass der für ihn gewohnte und von ihm gewünschte Zustand des Fahrzeuges auch tatsächlich wie vor dem Schadensfall erhalten bleibt bzw. wiederhergestellt wird (vgl. BGH VersR 2007, 1244; BGHZ 162, 161, 168; BGH VersR 1972, 1024 f. und VersR 1985, 593, 594). Dass der Geschädigte Schadensersatz erhält, der den Wiederbeschaffungswert übersteigt, ist deshalb mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot und Bereicherungsverbot nur zu vereinbaren, wenn er den Zustand des ihm vertrauten Fahrzeuges wie vor dem Unfall wieder herstellt.
b) Diese zu beschädigten Kraftfahrzeugen ergangene Rechtsprechung ist nach Auffassung des Senats auch für ein, wie hier nahezu vollständig beschädigtes Rennrad, übertragbar. Entgegen der Ansicht des Klägers gibt es keinen Grund, bei Fahrrädern, welche die letzten Jahrzehnte ebenfalls wie Kraftfahrzeuge eine stetige technische Weiterentwicklung vollzogen haben, die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für Kraftfahrzeuge hier nicht anzuwenden. Der Kläger betont im vorliegenden Rechtsstreit gerade die Besonderheiten im Hinblick auf den beim beschädigten Fahrrad vorhanden Karbonrahmen. Selbst wenn das Fahrrad nach den Angaben des Klägers zu einem Liebhaberstück wurde, ist zu bedenken, dass es sich nach den Angaben des Sachverständigen Dipl.-Ing. Albert S. um ein Komplettrad der Marke Scott handelte, welches einen relativ geringen Wiederbeschaffungswert aufweist. Nicht überzeugend ist der Einwand des Klägers, wonach für die Frage der Unverhältnismäßigkeit der Reparatur auch andere Umstände als das reine Wertverhältnis, wie der Grad des Verschuldens, zu berücksichtigen seien. Die zitierte Entscheidung des BGH (vgl. BGH MDR 1988, 213) betraf den Ersatz von Aufwendungen im Rahmen eines Auftragsverhältnisses und keinen Schaden im Rahmen eines Verkehrsunfalles. Das Verschulden wird hier bereits im Rahmen der Haftungsquote berücksichtigt.
c) Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung vor dem Senat am 16.11.2018 angegeben, dass er das Fahrrad vor ca. 10 bis 12 Jahren, „round about“, bei einem Händler im Allgäu habe zusammenbauen lassen und dort abgeholt habe. Damit hat der Kläger seinen zunächst in der Replik vom 26.10.2016 genannten Erwerbszeitraum des Fahrrads im Jahr 2012/2013 (vgl. Bl. 31 d.A.) geändert. Nach den überzeugenden Angaben des Sachverständigen Dipl.-Ing. Albert S. steht für den Senat fest, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrrad, entgegen der Angaben des Klägers, nicht um einen Individualaufbau, sondern um ein Komplettrad handelt, welches dem Modelljahr 2004 zuzuordnen ist. Der Sachverständige hat hierzu beim Hersteller Scott recherchiert, welcher anhand der Rahmennummer des Fahrrades das Modelljahr ermitteln konnte. Der Senat übersieht nicht, wonach der Sachverständige ausführte, dass natürlich nicht auszuschließen sei, dass ein Händler ein Fahrrad aus dem Modelljahr 2004 länger aufhebe. Es sei jedoch sehr ungewöhnlich, dass ein Fahrrad aus dem Modelljahr 2004 erst viele Jahre später verkauft werde.
d) Nach den ausführlichen, von sorgfältiger Recherche geprägten Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. Albert S. ergibt sich für das Fahrrad, ausgehend vom Modelljahr 2004 unter Beachtung der Abwertungskurve nach Schwacke ein Wiederbeschaffungswert von 930,60 €. Da der Allgemeinzustand des Fahrrads zum Unfallzeitpunkt sehr gut gewesen ist, ist der Abwertungsschlüssel hier um 10 % auf 28 % zu erhöhen, so dass sich der für das Fahrrad angemessene Wiederbeschaffungswert auf 1.447,60 € beläuft.
e) Damit liegen die vom Kläger geltend gemachten Reparaturkosten weit über 130 % des Wiederbeschaffungswertes. Bezüglich der unbeschädigten Teile ging der Sachverständige von einem Restwert von ca. 28,00 € aus, so dass der Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts 1.419,60 € beträgt. Im Lichte der obigen Rechtsprechung musste der Kläger daher auf Totalschadenbasis abrechnen und kann nicht die geltend gemachten Reparaturkosten beanspruchen. Insoweit ist die vom Kläger ins Feld geführte, vom Erstgericht geteilte, Begründung, wonach ihm nicht zumuten sei, ein gebrauchtes Rennrad mit Karbonrahmen, bei dem der Kläger keine ausreichende Kenntnis über eventuelle Vorschädigungen des Karbonrahmens haben wird, als Ersatz zu akzeptieren, nicht überzeugend. Das gleiche Risiko hat letztlich auch jeder Geschädigte eines Kraftfahrzeugs, welcher angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung auf Totalschadenbasis abrechnen muss. Sofern dieser auch nur den vom Schadensfall erstatteten Betrag zur Ersatzbeschaffung einsetzen kann, ist dieser auch auf den Erwerb eines gebrauchten Kraftfahrzeugs beschränkt. Auch bei einem gebrauchten Kraftfahrzeug besteht das Risiko, ein Fahrzeug zu erwerben, welches (versteckte) Vorschädigungen, z.B. im Getriebe, aufweist.
f) Da die Beklagte bereits 1.500,00 € für den Sachschaden am Fahrrad bezahlt hat, besteht für den Kläger kein weitergehender Schadenersatzanspruch mehr. Insoweit war das Ersturteil abzuändern und die Klage auch diesbezüglich abzuweisen.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 I 1 Fall 1, 100 II, IV ZPO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
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