Während in den meisten Gerichtsentscheidungen der letzten Zeit zur Wertgrenze des bedeutenden Schadens in § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB niedrigere Beträge angenommen worden sind – etwa durch das LG Braunschweig und LG Offenburg (1500 Euro) oder das AG Stuttgart (1600 Euro) – hebt das LG Nürnberg-Fürth die Wertgrenze deutlich an und meint: Unter einem Nettobetrag von 2500 Euro liegt kein bedeutender Schaden vor. Begründet wird dies mit der neuen Möglichkeit, Fahrverbote von bis zu sechs Monaten zu verhängen, dem Vergleich mit dem in § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB weiter aufgeführten Alternativen (Tötung oder nicht unerhebliche Verletzung eines Menschen) sowie der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre.
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12.11.2018 – 5 Qs 73/18
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg, Az. 4 Cs 703 Js 111365/18, vom 25.09.2018 aufgehoben.
2. Der Führerschein ist dem Angeklagten unverzüglich herauszugeben.
3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth führt gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfall im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, der sich am 26.07.2018 gegen 16:59 Uhr auf der …straße in Nürnberg in Höhe von Hausnummer 2 ereignet haben soll. Der Angeklagte soll mit dem Kleintransporter …, beim Rückwärtsfahren mit seinem Frontstoßfänger rechts gegen den am rechten Fahrbahnrad geparkten Pkw … gestoßen sein und zwar an den Kotflügel, die Radlaufblende sowie die Felge vorne links. Durch den Anstoß soll der Kotflügel und die Radlaufblende vorne links eingedrückt und verschrammt worden sein. Die Felge vorne links sei ebenfalls verschrammt worden. Es soll ein Fremdschaden von 1.977,74 Euro netto entstanden. Obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkt und erkannt bzw. damit gerechnet habe, dass ein nicht völlig unbedeutender Fremdschaden entstanden sei, habe er die Unfallstelle verlassen, bevor er eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet hätte, ohne dass jemand bereit gewesen sei, zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Dadurch habe sich der Angeklagte als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Nürnberg am 25.09.2018 einen Strafbefehl gegen den Angeklagten und entzog ihm mit Beschluss vom gleichen Tag vorläufig die Fahrerlaubnis. Zudem ordnete das Amtsgericht die Beschlagnahme des Führerscheins an. Sein Führerschein wurde am 11.10.2018 beschlagnahmt.
Der Angeklagte legte gegen den Strafbefehl Einspruch ein und erhob gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis am 24.10.2018 Beschwerde.
Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Verfügung vom 05.11.2018 die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Nach § 111 a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig nur dann entzogen werden, wenn sich aus der vorgeworfenen Tat auch ergibt, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (§ 69 StGB). Dringende Gründe für den endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis liegen vor, wenn dies in hohem Maße wahrscheinlich ist. Das ist der Fall, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für die körperliche oder charakterliche Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen besteht. Nach derzeitigen Ermittlungsstand ist ein endgültiger Entzug der Fahrerlaubnis mangels Nachweisbarkeit der charakterlichen Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen unwahrscheinlich.
a)
Der Angeklagte ist derzeit nicht dringend verdächtig, einen Regelfall des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB verwirklicht zu haben. Zwar besteht momentan ein dringender Tatverdacht der Unfallflucht (§ 142 Abs. 1 StGB) aufgrund der Angaben der Zeugen … und der Lichtbilder der POK … (vgl. Bl. 8 bis 15 d. A.) und des PHM … (vgl. Bl. 17 – 21 d.A.) sowie der Angaben des Beschuldigten gegenüber dem Polizeibeamten POK … am 07.08.2018 (vgl. Bl. 38 d.A.). Nach dem derzeitigen Ermittlungsergebnis besteht jedoch kein dringender Verdacht, dass der Angeklagte durch den Unfall einen bedeutenden Fremdschaden verursacht.
Ein bedeutender Fremdschaden liegt ab einem Betrag von 2.500,00 € netto vor (vgl. z.B. die Beschlüsse der Kammer vom 10.04.08 – Az. 5 Qs 23/18 und vom 05.11.18, Az. 5 Qs 69/18). Die Kammer hat die Änderung von § 44 Abs. 1 StPO und damit die seit dem 24.08.2017 geschaffene Möglichkeit der Verhängung von Fahrverboten von bis zu sechs Monaten anstelle von drei Monaten zum Anlass genommen, ihre Rechtsprechung zum Begriff des bedeutenden Fremdschadens Anfang 2018 zu ändern (bis 2017: 1.800,00 € netto, vgl. z. B. Beschluss vom 11.04.2008, Az. 5 Qs 61/08). Im Hinblick auf die in § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB angeordnete Gleichsetzung des bedeutenden Fremdschadens mit der Tötung bzw. nicht unerheblichen Verletzung eines Menschen einerseits und der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten zehn Jahren andererseits hat die Kammer im Interesse der Rechtssicherheit eine großzügige Anpassung der Wertgrenze nach oben vorgenommen. Die Kammer hat dabei die Entwicklung der Einkommen und der Kosten für die Beseitigung der Folgen von Verkehrsunfällen berücksichtigt und sich an einer groben Schätzung der wirtschaftlichen Entwicklung orientiert. Eine exakte Ermittlung der Kostenentwicklung bei der Beseitigung von Unfallfolgen ist nicht zuletzt wegen der Vielfältigkeit der Unfallszenarien von geringer Aussagekraft. Die Kammer hat deswegen davon abgesehen anhand von einem Musterunfallgeschehen auf eine insoweit singuläre Kostenentwicklung abzustellen (vgl. aber zu diesem Ansatz, LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 13.05.2008, Az. 5/9a Qs 5/08). Die Verbraucherpreise für die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen sind allein in den Jahren von 2010 bis 2016 um 11,6 % angestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt, Verbraucherpreisindex für Deutschland, Klassifikation CC 0723). Im gleichen Zeitraum steigerte sich der Reallohnindex lediglich um 7,8 % (vgl. Statistisches Bundesamt, Verdienste und Arbeitskosten, Reallohnindex und Nominallohnindex, 4. Vierteljahr 2017). Auch im Bereich der Bergungs- und Abschleppkosten ist es zu deutlichen Preissteigerungen gekommen. So sind beispielsweise die Preise für ein Standard-Bergungsfahrzeug zum Abtransport von liegen gebliebenen Pkws bis 7,49 t zwischen den Jahren 2006 und 2016 um 35,5 % angestiegen (vgl. VBA, Preis- und Strukturumfrage im Bergungs- und Abschleppgewerbe, Ergebnisse 2006 bis 2016). Eine großzügige Anpassung der Wertgrenze war im Interesse der Rechtssicherheit geboten, um eine wiederholte Anpassung um kleinere Beträge in kürzeren Zeitabständen möglichst zu vermeiden.
Nachdem der vorliegend eingetretene Schaden mit 1.977,74 € netto unterhalb dieses Betrages liegt, kommt es nicht mehr darauf an, ob -wozu im angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts keinerlei Ausführungen gemacht werden- der Angeklagte wusste oder hätte wissen können, dass ein Schaden in dieser Höhe eingetreten ist. Dies scheint nach den in der Akte enthaltenen Lichtbildern des Schadens (Bl. 17 bis 21 d. A.) sowie der Beschreibung des Schadensbildes am Fahrzeug der Geschädigten als „oberflächliche Schleifspur“ durch den Polizeibeamten POK … (vgl. Bl. 3) auch fraglich.
b)
Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte aus anderen Gründen zur Führung von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Die Auskünfte aus dem Fahreignungsregister vom 09.08.2018 und dem Bundeszentralregister vom 20.09.2018 waren negativ. Allein aus diesem Umstand, dass der Angeklagte mit der vorliegend angeklagten Tat dringend einer Unfallflucht, also einer Katalogtat im Sinne des § 69 Abs. 2 StGB, verdächtigt ist, kann noch nicht auf eine charakterliche Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden.
c)
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 StPO.
Der Argumentationsspielraum erweitert sich für den Rechtsanwalt durch die Änderung des § 44 StGB bedeutend, dies betrifft nicht nur die Unfallflucht, sondern zB auch die Nötigung im Straßenverkehr, möglicherweise auch den § 315 c StGB in der doppelten Fahrlässigkeitsvariante, Dann kann man auch wieder die Beschwerde gegen den 111a-Beschluss in geeigneten Fällen mit guter Erfolgsaussicht wagen.