In einem neueren Urteil stellt das AG Essen klar, dass beim Einfahren auf eine Bundesautobahn kein Reißverschlussverfahren gilt – auch dann nicht, wenn der Verkehr auf der Autobahn nicht fließt, sondern nur Stop-and-Go herrscht. Es gelte auch in diesen Fällen unverändert ein Anscheinsbeweis, der bei einem Zusammenstoß gegen den, der auf die Autobahn auffährt, spreche. Den Vorfahrtsberechtigten treffe nur beim Nachweis des Einfahrenden, dass der Vorfahrtsberechtigte hätte unfallverhindernd abbremsen können, eine Mithaftung. Im entschiedenen Fall kam hinzu, dass die Klägerin ihren Pkw dicht vor einen auf der Autobahn befindlichen Lkw zog, für dessen Fahrer der Pkw der Klägerin – möglicherweise – nicht zu erkennen war. Als Vorfahrtsberechtigter habe der Lkw auch nicht den Rampenspiegel, in dem der Pkw möglicherweise verzerrt zu erkennen war, benutzen oder den Verkehr auf der Auffahrt ständig im Blick behalten müssen (AG Essen, Urteil vom 20.03.2017 – 14 C 188/16).

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen die Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls geltend, der sich am 17.11.2014 gegen 9:14 Uhr auf der Bundesautobahn A 52 in Fahrtrichtung Roermond Höhe der Auffahrt Essen-Rüttenscheid ereignete.

Die Klägerin ist Eigentümerin und Fahrerin des Pkws VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen … .

Der Beklagte zu 1) ist Fahrer des Lkws Daimler mit dem amtlichen Kennzeichen …, dessen Halterin die Beklagte zu 2) und der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist.

Der Beklagte zu 1) befuhr die rechte Fahrspur der Autobahn. Die Klägerin fuhr auf die Autobahn auf.

Es herrschte Stop-and-Go Verkehr.

Es kam zur Kollision.

Die Klägerin macht mit der Klage 50 % folgender Schäden geltend:

– Reparaturkosten netto: 1.542,00 Euro

– Unkostenpauschale: 25,00 Euro

1.567,00 Euro

Mit anwaltlichem Schreiben vom 19.12.2014 forderte die Klägerin die Beklagte zu 3) unter Fristsetzung bis zum 31.12.2014 zur Regulierung auf.

Die Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1) habe auf der rechten Spur gestanden. Sie sei bereits zu ¾ auf der rechten Fahrspur gewesen und habe dort eine Minute gestanden als der Beklagte zu 1) aufgefahren sei. Ihr Fahrzeug sei stets in VW-Werkstätten gewartet worden.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 783,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2015 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 147,56 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2015 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, die Klägerin sei von der Auffahrspur steil nach links vor den Beklagten zu 1) gezogen als der Verkehr anrollte.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen … . Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 20.03.2017 Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Klägerin steht gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfallgeschehens kein Schadensersatzanspruch aus §§ 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs.1 Nr.1 VVG zu.

Der streitgegenständliche Unfall stellte sich für keinen der Unfallbeteiligten als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis dar, so dass sich der Umfang der Haftung danach richtet, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 StVG).

Die vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt vorliegend dazu, dass die Klägerin den Unfall allein schuldhaft verursacht hat.

Der jeweilige Verursachungsbeitrag wird gebildet aus der Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den beteiligten Kraftfahrzeugen ausgegangen sind, und die sich auf die Herbeiführung des Unfalls und die entstandenen Schäden ausgewirkt haben. Solche Gefahren ergeben sich zum einen aus der Beschaffenheit der beteiligten Fahrzeuge, den von ihnen gefahrenen Geschwindigkeiten, den zum Zeitpunkt des Unfalls durchgeführten Fahrmanövern sowie dem konkreten Fahrverhalten und dabei insbesondere aus etwaigen Fahrfehlern oder Verkehrsverstoßen. Dabei sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die unstreitig oder beweisen sind, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden.

Für Verschuldensvermutungen ist hierbei kein Raum. Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, das im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Verschulden gereichen.

Auf Seiten der Klägerin ist im Rahmen dieser Abwägung zunächst die Betriebsgefahr in die Abwägung einzustellen.

Hinzu kommt, dass die Klägerin auf die Autobahn aufgefahren ist und dabei gegen § 18 Abs. 3 StVO verstoßen hat. Hierfür streitet schon der Beweis des ersten Anscheins.

Ein auf eine Autobahn einfahrender Verkehrsteilnehmer hat gemäß § 18 Absatz 3 StVO dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren. Er muss dazu den Verkehr auf der Autobahn beobachten und trägt das volle Risiko, wenn dieser auf seinen Vorrang vertraut. Kommt es in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtsverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein schuldhafter Vorfahrtsverletzung gegen sich (vgl. nur Hentschel/ 41.Aufl. 2011 (König, aaO, StVO § 8 Rdnr. 68, 69).

Dabei ist § 18 Abs. 3 StVO nicht auf das Einfädeln bei fließendem Verkehr auf der Autobahn beschränkt. Auch bei zähfließendem Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr – wie hier – gilt beim Einfahren auf die Autobahn nicht das Reißverschlussverfahren. Vielmehr hat der Verkehr auf den durchgehenden Fahrbahnen Vorrang mit der Folge, dass bei einem Unfall zwischen einem Verkehrsteilnehmer, der vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn einfährt, und einem Fahrzeug auf der rechten Fahrspur dieser Autobahn ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden des Einfädelnden spricht (OLG Köln, Urteil vom 24. 10. 2005 – 16 U 24/05, NZV 2006, 420; LG Essen 15 S 48/13, Beschluss vom 08.04.2013).

Nur wenn der Einfahrende nachweisen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte die Möglichkeit gehabt hätte, unfallverhindernd abzubremsen, trifft diesen eine Mitschuld (vgl. auch Hentschel/König 41.Aufl. 2011, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 18 StVO, Rdnr. 17 m.w. Nachw. zu den Pflichten beim Einfädeln oder KG NZV 2008, 244).

Eine solche Erkennbarkeit ihres Fahrstreifenwechsels für den Beklagten zu 1) hat die Klägerin jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen können.

Zwar hat die Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung (§ 141 ZPO) geschildert, dass sie in eine Lücke vor den Lkw des Beklagten zu 1) eingefahren sei und dort zwei Minuten 2-3 Meter vor dem Lkw gestanden habe.

Dem stehen jedoch bereits die glaubhaften Angaben des Zeugen … entgegen, wonach die Klägerin in eine sich vor dem Lkw des Beklagten zu 1) bildende Lücke hineingehuscht sei und dann wieder zum Stehen gekommen sei. Der bereits bei Vornahme des Fahrstreifenwechsels durch die Klägerin anfahrende Beklagte zu 1) sei sodann aufgefahren, wobei sich die Klägerin aus seiner Sicht im toten Winkel für den Beklagten zu 1) befunden habe.

Diese Angaben des Zeugen … hält das Gericht insbesondere deshalb für glaubhaft, weil es sich bei diesem um einen am Verkehrsunfallgeschehen völlig unbeteiligten Zeugen handelte. Er schilderte das Geschehen nachvollziehbar schlüssig und blieb auch auf Nachfragen konstant in seiner Schilderung. Dabei waren auch einseitige Belastungstendenzen nicht erkennbar. Insbesondere räumte der Zeuge auch inzwischen bestehende Erinnerungslücken ein.

Dass der Fahrvorgang der Klägerin für den Beklagten zu 1) erkennbar gewesen ist, vermag das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls nicht festzustellen.

Eine Erkennbarkeit für den Beklagten zu 1) ergibt sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht aus dem bereits im Bußgeldverfahren eingeholten Sachverständigengutachten.

Danach konnte der Sachverständige zwar feststellen, dass die Klägerin mit ihrem Fahrzeug im Moment der Kollision stand. Dass dies aber längere Zeit der Fall gewesen wäre und damit eine Erkennbarkeit bestand vermochte der Sachverständige aber nicht festzustellen.

Im Übrigen muss danach der Pkw der Klägerin für den Beklagten zu 1) in der Annäherung nicht erkennbar gewesen sein und auch das Hineinfahren vor die Front des Lkw konnte dem Beklagten zu 1) verborgen bleiben. Denn das klägerische Fahrzeug war für den Beklagten zu 1) allein im Rampenspiegel verzerrt zu sehen.

Der Beklagte zu 1) war aber als Vorfahrtsberechtigter nicht dazu verpflichtet diesen Spiegel zu nutzen und den Verkehr auf der Einfädelungsspur ständig zu beobachten.

Insoweit bedurfte es auch nicht der Einholung des von der Klägerin beantragten weiteren Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob das Fahrzeug der Klägerin, als dieses rechts versetzt vor dem Beklagtenfahrzeugs stand, für den Beklagten zu 1) erkennbar gewesen ist.

Denn auf diese Frage kam es schon nicht streitentscheidend an. Streitentscheidend ist nämlich allein die Frage, ob der von der Klägerin durchgeführte Fahrstreifenwechsel für den Beklagten zu 1 erkennbar war, nicht aber, ob das Fahrzeug der Klägerin zuvor für den Beklagten zu 1) erkennbar war.

Im Übrigen dürfte die Frage der Erkennbarkeit nicht dem Sachverständigenbeweis, sondern vielmehr dem Zeugen beweis obliegen.

Die damit allein in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt hinter dem überwiegenden Verschulden der Klägerin zurück.

Soweit der Klägervertreter im Termin zur mündlichen Verhandlung Schriftsatznachlass beantragt hat, war dieser nicht zu gewähren. Denn auf den Inhalt des Schriftsatzes der Beklagten vom 13.03.2017 kam es schon deshalb nicht streitentscheidend, weil dieser keinen neuen Tatsachenvortrag enthielt.

Mangels Hauptanspruchs besteht auch kein Anspruch auf Zinsen.

Insofern kann die Klägerin auch keine Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen begehren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs.1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Streitwert: 783,50 Euro