Der Beschuldigte kollidierte beim Auffahren auf eine Autobahn mit einem anderen Fahrzeug und fuhr weiter, bis er von der Polizei in einer Ortschaft angetroffen werden konnte. Hinsichtlich des Entfernens von der Unfallörtlichkeit ist streitig, ob der Beschuldigte durch § 142 Abs. 1 StGB zum Anhalten verpflichtet oder das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO, auf der Autobahn zu halten, vorrangig war. Das LG Aachen meint hierzu, dass dies im Einzelfall entschieden werden müsse. Vorliegend seien zwei andere unfallbeteiligte Fahrzeuge in Höhe des Beschleunigungsstreifens auf dem linken Fahrstreifen mit Warnblinklicht stehen geblieben, wobei die Fahrer Warndreiecke aufgestellt hätten. Auch seien unmittelbar nach der Kollision Polizeibeamte am Unfallort gewesen. Es habe somit zwar eine potentielle Gefährlichkeit bestanden, auf der Autobahn zu halten; allerdings seien die Fahrzeuge auf Grund des des Tageslichts, ihrer Anzahl und der Absicherung für den nachfolgenden Verkehr vergleichsweise gut zu erkennen gewesen. Damit sei dem Gebot, anzuhalten und zu warten, der Vorrang zu geben gewesen.

LG Aachen, Beschluss vom 10.01.2022 – 64 Qs 44/21

Die Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss dem Beschwerdeführer zu Recht die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen (§ 111 a StPO), weil – auch nach Auffassung der Kammer – dringende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass dem Beschuldigten demnächst mit Urteil die Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB endgültig entzogen werden wird.

Die Kammer schließt sich auch in der Begründung den zutreffenden Erwägungen des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses an. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine dem Beschwerdeführer günstigere Entscheidung.

Der Beschwerdeführer ist auf Grund des bisherigen Ermittlungsergebnisses – insbesondere aufgrund der Aussagen der Zeugen A., H., S., KKin K., KOK H. – dringend verdächtig, sich am … gegen … Uhr bei mittlerem Verkehrsaufkommen auf der A… in Fahrtrichtung …auf Höhe der Anschlussstelle … einer Straftat nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB strafbar gemacht zu haben, indem er grob verkehrswidrig und rücksichtslos sein Fahrzeug auf dem Beschleunigungsstreifen stark beschleunigte, über eine durchgezogene Linie fuhr (Verstoß gegen Zeichen 295 der Anlage 2 zu § 41 StVO), um einen auf der rechten der beiden Richtungsfahrspuren fahrenden Lastkraftwagen zu überholen und in einem Zug weiter auf die linke Richtungsfahrspur zog, ohne dabei den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen (Verstoß gegen § 5 Abs. 4a StVO), so dass er den auf der linken Richtungsfahrspur mit ca. 140 km/h befindlichen Zeuge A. zu einer Vollbremsung zwang. Dennoch kollidierte der vordere rechte Kotflügel des Fahrzeugs des Zeugen A. mit der linken Fahrzeugseite des Beschwerdeführers. Durch den Zusammenstoß geriet der Beschwerdeführer stark ins Schleudern und erlangte sodann wieder die Kontrolle über sein Fahrzeug. Dadurch entstand ein Sachschaden in Höhe von 3.000,00 EUR.

Ein tatbestandlich “falsches Überholen” im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB war damit gegeben. Der Beschwerdeführer handelte unter den gegebenen Umständen grob verkehrswidrig. Er wich mit seinem Verhalten in besonders gefährlicher Weise vom pflichtgemäßen Verhalten ab. Es drohte nicht nur bei einer Fehlreaktion bzw. Schreckreaktion des Zeugen A. aufgrund des plötzlich auf seiner Fahrbahn auftauchenden Beschwerdeführer unmittelbar ein Unfall. Insbesondere ein abruptes Ausweichmanöver droht als Folge eines derartigen Fahrverhaltens und insoweit wiederum die Möglichkeit eines folgenschweren Unfalls. Vorliegend mündete das gefährliche Fahrverhalten des Beschwerdeführers tatsächlich in einem Unfall mit nicht unerheblichem Sachschaden infolge seiner Fahrt zwischen dem Fahrzeug des Zeugen A. und dem Lastkraftwagen auf der zweispurigen Autobahn und der anschließenden Kollision geriet er stark ins Schleudern und stellte so eine unerwartete, unberechenbare Gefahr für den nachfolgenden Verkehr dar. Auf des bisherigen Ermittlungsergebnisses hat sich der Beschwerdeführer von einem ausschließlich eigensüchtigen Motiv – eigenes schnelleres Vorwärtskommen – leiten lassen und sich dabei über die ihm als Kraftfahrzeugführer obliegenden Pflichten und die Sicherheitsinteressen der Insassen des Fahrzeugs des Zeugen A. und des Lastkraftwagens aus Gleichgültigkeit hinweggesetzt sowie Bedenken gegen seine aggressive Fahrweise in sich von vornherein nicht aufkommen lassen. Er hat damit rücksichtslos im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB gehandelt. Durch die Fahrweise des Beschwerdeführers wurden schließlich auch Leib und Leben anderer – nämlich der Insassen des Fahrzeugs des Zeugen A. und des Lastkraftwagens und der unmittelbar folgenden Fahrzeuge – und fremde Sachen von bedeutendem Wert im Sinne des § 315c Abs. 1 StGB konkret gefährdet. Eine solche Gefährdung setzt voraus, dass ein Unfall in bedrohliche bzw. nächste Nähe gerückt wird. Vorliegend realisierte sich die konkrete Gefährdung in der Kollision des Beschwerdeführers mit dem Fahrzeug des Zeugen A.

Die Einlassung, es liege lediglich eine bloße Unachtsamkeit beim Auffahren vor, ist angesichts der festgestellten Umstände, als Schutzbehauptung zu werten.

Es besteht zudem ein dringender Tatverdacht des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Der Beschwerdeführer hat sich tatbestandsmäßig vom Unfallort entfernt, indem er nach dem Unfallereignis auf der Autobahn weiterfuhr und erst infolge der Aufforderung der Zeugen KKin K. und KOK H. auf der …straße in … anhielt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers scheidet eine Strafbarkeit gemäß § 142 Abs. 1 StGB scheidet jedoch nicht aus, weil der Beschwerdeführer sich im vorliegenden Einzelfall berechtigt von der Unfallstelle entfernte. Denn er war nicht aufgrund einer rechtfertigenden Pflichtenkollision zur Weiterfahrt berechtigt. Für den Beschwerdeführer bestand zwar zum einen das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO, auf der Autobahn zu halten. Auf der anderen Seite gilt das Halte- und Wartegebot des § 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO und des § 142 StGB. Welches dieser Gebote bei einem Unfall auf der Autobahn den Vorrang hat, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Vorliegend waren mindestens zwei weitere Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt. Der Zeuge A. und der nachfolgende Zeuge S. blieben mit ihren Fahrzeuge selbst unmittelbar hintereinander auf der linken Richtungsfahrstreifen in Höhe des Beschleunigungsstreifen der Anschlussstelle … stehen. Sie setzen die Warnblickanlage und stellten Warndreiecke auf. Die aufnehmenden Polizeibeamten waren ebenfalls unmittelbar nach der Kollision am Unfallort. Vor diesem Hintergrund war zwar die potentielle Gefährlichkeit von auf der Autobahn stehenden Fahrzeugen für den nachfolgenden Verkehr zu berücksichtigen. Allerdings waren diese aufgrund des Tageslichts, der Anzahl und der Absicherung für den nachfolgenden Verkehr vergleichsweise gut zu erkennen. Durch ein Verbleiben an der Unfallstelle hätte eine weitere Aufklärung erfolgen können. Danach war dem Gebot des Haltens und Wartens der Vorrang zu geben.

Der Beschwerdeführer hätte zudem erkennen können, dass der bei dem Unfall entstandene fremde Schaden bedeutend im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist. Ein bedeutender Fremdschaden liegt nach ständiger Rechtsprechung der Kammer ab einem Betrag von 1.100,00 EUR vor. Der hier verursachte Schaden liegt ausweislich der polizeilichen Schadensschätzung bei der Unfallaufnahme mit ca. 3.000,00 EUR deutlich über der Wertgrenze von 1.100,00 EUR. Die polizeiliche Schadensschätzung kann als Indiz für die Erheblichkeit der erkennbaren Schadens herangezogen werden (MüKoStVR/Kretschmer, 1. Aufl. 2016, StGB § 69 Rn. 51). Zumal die polizeiliche Schätzung deutlich über der in ständiger Kammerrechtsprechung herangezogenen Wertgrenze von 1.100,00 EUR liegt. In subjektiver Hinsicht ist es für die Annahme eines Regelfalles nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ausreichend, dass der Täter die objektiven Umstände erkennen konnte, die die rechtliche Bewertung des Schadens als “bedeutend” begründen (vgl. OLG Naumburg Urt. v. 20.12.1995 – 2 Ss 366/95, BeckRS 9998, 87287, beck-online). Nicht erforderlich ist es hingegen, dass er nach seinen persönlichen Kenntnissen in der Lage gewesen wäre, diese Wertung selbst vorzunehmen (OLG Naumburg, a.a.O.). Die objektiven, für die Bewertung maßgeblichen Umstände (Kollision zweier Fahrzeuge bei relativ hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn) hätte der Beschuldigte unschwer feststellen können.

Mit Erfüllung des Tatbestandes des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) bzw. § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist in der Regel die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 1 bzw. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB verbunden.