Fahrradfahrer aufgepasst: Ein Radfahrer, der einen Gehweg und diesen noch dazu in entgegengesetzter Fahrtrichtung befährt, hat nach einem Berufungsurteil des LG Osnabrück keine Bevorrechtigung gegenüber von links kommenden Fahrzeugen. Im konkreten Fall nahm das LG sogar eine Alleinhaftung der Radfahrerin an: Der Führer des Pkw sei bei der Annäherung an den Kreuzungsbereich zur Vorsicht verpflichtet gewesen, habe aber nicht mit querendem Fahrradverkehr im Bereich des Gehwegs rechnen müssen, zumal auf der Straße Fahrradwege eingezeichnet gewesen seien. Auch müsse ein Fahrzeugführer auf Verkehrsteilnehmer achten, welche den Gehweg in unzulässiger Weise nutzen; ein Verstoß gegen diese Verpflichtung, insbesondere eine unangemessene Geschwindigkeit des Pkws seien aber nicht erwiesen.

LG Osnabrück, Urteil vom 30.05.2017 – 3 S 118/17

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 19. Januar 2017 verkündete Urteil des Amtsgerichts Bersenbrück zu dem Geschäftszeichen 4 C 171/16 geändert:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Anschlussberufung wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Klägerin fordert von den Beklagten die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall, welcher sich am 29. Juli 2015 in B. im Kreuzungsbereich L.-Weg/ M.-Straße ereignete.

Wegen des Sachverhaltes nimmt die Kammer Bezug auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Das Amtsgericht Bersenbrück hat die Klage nach Anhörung der Klägerin sowie des Beklagten zu 1 in Höhe von einem Drittel stattgegeben, wobei – unberücksichtigt eines Mitverschuldens – ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500,00 € für angemessen erachtet sowie die Kosten für die beschädigte Jeans mit einem Betrag in Höhe von 25,00 € sowie der Schaden für das durch den Unfall beschädigte Fahrrad mit einem Betrag in Höhe von 350,00 € bemessen worden sind. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden.

Dagegen richten sich die Berufung der Beklagten sowie die Anschlussberufung der Klägerin.

Die Beklagten machen geltend, dass sie für das Unfallgeschehen nicht einzustehen hätten. Sie meinen, dass die Kollision für den Beklagten zu 1 unvermeidbar gewesen sei. Die Betriebsgefahr trete hinter dem gravierend sorgfaltspflichtigen und verkehrswidrigen Verhalten der Klägerin zurück.

Die Beklagten beantragen,

die Klage unter Aufhebung des am 19. Januar 2017 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Bersenbrück, Aktenzeichen 4 C 171/16, abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

1. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,

sowie

2. die Beklagten zu verurteilen, ihr über den vom Amtsgericht zuerkannten Betrag hinaus weitere 1.231,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18. Dezember 2015 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Urteil des Amtsgerichts Bersenbrück rechtsfehlerhaft sei, soweit ihr Haftungsanteil in Höhe von 2/3 bemessen worden sei. Eine höhere Haftung als 50 Prozent komme nicht in Betracht. Die Beklagten hätten nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 1 den gesteigerten Sorgfaltsanforderungen nach § 10 StVO entsprochen habe. Die durch den Unfall erlittenen Verletzungen würden – unberücksichtigt eines Mitverschuldens – ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500,00 € rechtfertigen.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gegenseitig gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache hat sie Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Bersenbrück sowie zur Abweisung der Klage. Die Anschlussberufung wird zurückgewiesen.

Dazu im Einzelnen:

Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten gemäß §§ 7, 18 StVG, § 115 Abs. 1 S. 4 VVG, §§ 421f BGB kein Zahlungsanspruch dem Grunde nach zu. Die gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gebotene Abwägung der Verschuldensbeiträge steht dem geltend gemachten Anspruch entgegen.

Bei einer Kollision zwischen einem Radfahrer und einem Kraftfahrzeug findet gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB eine Abwägung der Verschuldensbeiträge statt (vgl. König, in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 33. Auflage, 2017, § 9 StVG, Rdnr. 7). Auf Seiten der Beklagten bestehen über die Betriebsgefahr hinausgehende Umstände nicht.

Bei der Beurteilung betriebsgefahrerhöhender Tatsachen finden nur solche Umstände Berücksichtigung, die unstreitig, zugestanden oder nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme erwiesen sind und die sie sich auf das Unfallgeschehen ausgewirkt haben (vgl. BGH VersR 1995, 357).

Wie das Amtsgericht Bersenbrück zutreffend ausgeführt hat, greift zu Lasten der Beklagten die Regelung zu § 10 Abs. 1 S. 1 StVO nicht ein. Ausweislich der zur Akte gereichten Lichtbilder wird der verkehrsberuhigte Bereich bereits vor dem Kreuzungsbereich, auf dem sich der Unfall ereignete, aufgehoben. Ferner stellt sich auch unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten, insbesondere des Abstandes zwischen dem Verkehrszeichen 325.2 und der Unfallstelle sowie der Straßenführung, das Einfahren auf die M. Straße nicht mehr als ein Verlassen des verkehrsberuhigten Bereiches dar (vgl. BGH NZV 2008, 193). Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Bersenbrück haben die Beklagten keinen Verstoß gegen die Regelung zu § 8 Abs. 1 S. 1 StVO begangen. Das Vorfahrtsrecht, das der Sicherheit des Straßenverkehrs dient, erstreckt sich auf den Fahrbahnbereich und auf die angrenzenden Radwege (vgl. Heß, in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Auflage, 2016, § 8 StVO, Rdnr. 4). Ein auf dem Gehweg in entgegengesetzter Fahrtrichtung fahrender Radfahrer ist gegenüber von links kommenden Fahrzeugen jedoch nicht vorfahrtsberechtigt (vgl. OLG Celle, OLGR 2001, 224). Das Vorfahrtsrecht ist nämlich schon begrifflich dort ausgeschlossen, wo das Recht zum „Fahren“ fehlt (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 23. Mai 1986, Geschäftszeichen 9 U 245/85, zit. BeckRS 2008, 16825). Die Benutzung von Gehwegen ist Radfahrern grundsätzlich nur gemäß § 2 Abs. 5 StVO gestattet. Ferner ist von keiner der Parteien vorgetragen worden, dass der Gehweg für den Fahrradverkehr freigegeben ist oder dass auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls mit einer Benutzung des Gehweges durch Radfahrer zu rechnen war.

Entgegen der Ansicht der Klägerin hat der Beklagte zu 1 auch nicht gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot gemäß § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Für einen solchen Verstoß trifft die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast. Ein solcher Beweis ist nicht erbracht.

Weder das Amtsgericht Bersenbrück noch die Kammer waren entgegen der Ansicht der Klägerin insoweit gehalten, ein Unfallrekonstruktionsgutachten einzuholen. Auch unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin sowie des Beklagten zu 1 in der mündlichen Verhandlung bestehen für die Einholung eines solchen Gutachtens keine hinreichenden Anknüpfungspunkte, welche jedoch zwingend erforderlich sind. Es ist weder die Geschwindigkeit der Klägerin oder des Beklagten zu 2 noch der genaue Kollisionsablauf feststellbar. Die Klägerin hat angegeben, dass sie nach dem Vorfall vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 gelegen habe. Weitere Angaben zu dem Unfallhergang hat sie nicht gemacht. Der Beklagte zu 1 hat angegeben, dass die Klägerin gegen sein Fahrzeug geprallt sei. Er habe Beschädigungen im Bereich des vorderen linken Kotflügels festgestellt. Das Fahrzeug sei zwischenzeitlich veräußert worden. Weitere Anhaltspunkte zum Unfallhergang beziehungsweise zum genauen Kollisionsort bestehen nicht. Ob die Klägerin gegen das Fahrzeug des Beklagten zu 1 gefahren ist oder dieser gegen die Klägerin, lässt sich nicht mehr feststellen. Allein aus dem Umstand, dass die Klägerin nach dem Unfall vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 gelegen habe, ist ein Rückschluss auf den Unfallhergang nicht möglich. Bei einer niedrigen Geschwindigkeit der Klägerin beziehungsweise einem unbewussten Bremsen kurz vor der Kollision ist ein „Rutschen über die Motorhaube“ nach Ansicht der Kammer nicht zwingend.

Auf Grund der Örtlichkeit sowie unter Berücksichtigung des unstreitigen Vorbringens ist den Beklagten in der konkreten Unfallsituation kein Vorwurf zu machen. Auf der M.-Straße sind erkennbar Fahrradwege eingezeichnet. Eine baulich erkennbare Freigabe des Gehweges für Fahrradfahrer, zum Beispiel durch rote Pflastersteine oder Hinweisschilder, besteht nicht. Der Beklagte zu 1 musste daher nicht mit querendem Fahrradverkehr im Bereich des Gehweges rechnen. Zwar ist der Beklagte zu 1 beim Annähern an den Kreuzungsbereich zur Vorsicht verpflichtet, da er entsprechend der täglichen Erfahrungen vorsorglich auch auf solche Verkehrsteilnehmer achten muss, die Gehwege in unzulässiger Weise benutzen (vgl. OLG Hamm, a.a.O). Es ist jedoch nicht bewiesen, dass der Unfall auch darauf zurückzuführen ist, dass der Beklagte zu 1 gegen diese Verpflichtung verstoßen hat. Ein Herannahen mit unangemessener Geschwindigkeit, welches ein Fehlverhalten begründen mag, ist den Beklagten nachweisbar nicht anzulasten, denn zur Überzeugung des Gerichts bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Beklagte zu 1 sich nicht, wie die Klägerin vorgetragen hat, langsam in den Kreuzungsbereich hineingetastet hat. Ferner war auf Grund des Zauns sowie des Buschwerks eine uneingeschränkte Sicht auf den Gehweg nicht möglich. Ein nachweisbar vorwerfbares Fehlverhalten des Beklagten zu 1 ist in der konkreten Situation des Einzelfalls nicht feststellbar.

Der zum Zeitpunkt des Unfallhergangs 16 Jahre alten Klägerin ist ein Verstoß gegen § 2 Abs. 5 StVO anzulasten. Ferner ist auf den eingereichten Lichtbildaufnahmen zum einen erkennbar, dass auf dem schmalen Fußweg eine Freigabe für den Fahrradverkehr nicht vorliegt. Zum anderen ist auf den Lichtbildaufnahmen deutlich sichtbar, dass links und rechts an der M.-Straße ein Radweg gekennzeichnet ist. Die Klägerin ist nach eigenen Angaben mit normaler Geschwindigkeit auf die Unfallörtlichkeit zu gefahren. Zur Überzeugung der Kammer ist davon auszugehen, dass bei dem anzulegenden Reifegrade einer 16 Jährigen der Klägerin zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls hinreichend bewusst war, dass sie unbefugter Weise auf dem Gehweg fährt. Die Kammer berücksichtigt insoweit auch, dass auch unter 8 Jahre alte Kinder, welchen das Fahren auf dem Gehweg erlaubt ist, den jeweils rechten Bürgersteig benutzen müssen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.). Es ist ferner davon auszugehen, dass der Klägerin das erhöhte Risiko ihres Verhaltens bewusst gewesen ist, welches auf Grund des Befahrens eines schmalen Fußweges – trotz Bestehens eines Radweges – sowie auf Grund der eingeschränkten Sicht auf die von links kommenden Autofahrer besteht. Anhaltspunkte, die eine verminderte Reife rechtfertigen, sind weder von der Klägerin vorgetragen worden noch ersichtlich. Insbesondere unter Berücksichtigung, dass ein Radweg auf beiden Seiten der Straße zur Verfügung steht, ist das Verhalten der Klägerin als rücksichtslos und grob fahrlässig einzustufen.

Unter diesen Umständen tritt die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten zu 1 vollständig zurück. Im Gegensatz zur Klägerin bestand für den Beklagten zu 1 keine andere Möglichkeit als langsam in den Kreuzungsbereich hineinzufahren. Anzeichen, bereits im Bereich des Gehweges mit querendem Fahrradverkehr zu rechnen, bestanden nicht. Die Kammer weist darauf hin, dass ein grundlegender Unterschied zu der von der Klägerin zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Münchens besteht. Dort war der Gehweg auch für Fahrradfahrer freigegeben.

Das Urteil des Amtsgerichts Bersenbrück ist daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Anschlussberufung ist zulässig. Sie ist fristgerecht innerhalb der Berufungserwiderungsfrist eingelegt worden. Aus den vorstehenden Gründen hat sie jedoch keinen Erfolg. Eine Haftung der Beklagten besteht nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Ob und welche Haftung bei einem Zusammenstoß zwischen einem auf dem Gehweg in entgegengesetzter Richtung fahrenden Radfahrer und einem von rechts kommenden Fahrzeug besteht, ist eine Entscheidung, die von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt.