Auf einer dreispurigen Bundesstraße bildete sich an einer roten Ampel in Höhe einer Tankstelle eine Fahrzeugschlange. In der Schlange befand sich der Lkw der Erstbeklagten, geführt vom Zweitbeklagten. Dieser hielt zu dem davor haltenden Fahrzeug eine Lücke von mindestens 5 Metern. Der Zeuge, der den Pkw der Klägerin führte, verließ das Tankstellengelände und durchfuhr die Lücke, um auf die linke Fahrspur der Bundesstraße zu fahren. Als die Ampel auf grünes Licht umschaltete, fuhr der Zweitbeklagte an und es kam zum Zusammenstoß der Fahrzeuge. Die Haftung der Beklagten wurde trotz des unvorsichtigen Einfahrens durch den Zeugen mit 30 % bemessen, da der Zweitbeklagte vor dem Anfahren den “toten Winkel” seines Lkw nicht auf andere Fahrzeuge überprüfte. Bei einer Lücke von 5 Metern sei in dieser Situation damit zu rechnen, dass Fahrzeuge diese zum Ausfahren aus dem Tankstellengelände nutzen (LG Saarbrücken, Urteil vom 26.02.2016, Az. 13 S 193/15).
1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerin als auch die Beklagten grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist, für keinen der unfallbeteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte und der Erstbeklagte auch nicht den Entlastungsbeweis nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG geführt hat. Das ist zutreffend und wird von den Parteien in der Berufung nicht in Frage gestellt.
2. Im Rahmen der danach gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das Erstgericht auf Seiten der Klägerin einen Verstoß des Zeugen … gegen die Pflichten beim Einfahren in die Straße nach § 10 Satz 1 StVO angenommen. Auch dies ist zutreffend und wird von der Berufung nicht angegriffen.
3. Auf Beklagtenseite hat das Erstgericht einen Verkehrsverstoß verneint, weil nicht nachgewiesen sei, dass der Zweitbeklagte das klägerische Fahrzeug erkannt hat oder erkennen musste. Hiergegen wendet sich die Berufung zu Recht.
Anders als die Erstrichterin meint, können sich die Beklagten unter den gegebenen Umständen nicht darauf berufen, der Zweitbeklagte als Fahrer des Beklagten-Lkw sei nicht in der Lage gewesen, ein vor ihm einfahrendes Fahrzeug zu erkennen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Grundsätze der sog. Lückenrechtsprechung vorliegend Anwendung finden (vgl. hierzu Kammer, Urteil vom 16.11.2012 – 13 S 117/12, NZV 2013, 494; für eine Anwendung der Lückenrechtsprechung bei Tankstellen zuletzt OLG Köln, VersR 2015, 1135 m.w.N.). Denn ein aufmerksamer Fahrer muss im Rahmen der gebotenen Rücksichtnahme gemäß § 1 Abs. 2 StVO auch einen sog. „toten Winkel“ seines Fahrzeuges berücksichtigen und Maßnahmen treffen, um sich ggfs. durch Spiegel oder Einsatz von Beifahrern Einblick in nicht zugängliche Sichtbereiche zu verschaffen zu können, zumindest wenn er damit rechnen muss, dass Fahrzeuge beim Einfahren sich in einem solchen „toten Winkel“ befinden könnten (so bereits Kammer, Urteil vom 31.07.2015 – 13 S 70/15). Dass der Zweitbeklagte hier konkreten Anlass hatte, mit einfahrenden Fahrzeugen zu rechnen, ergibt sich bereits daraus, dass sich vor ihm eine Fahrzeugschlange gebildet und er selbst in dieser Fahrzeugschlange eine Lücke von mindestens 5 m gelassen hatte, die dem von der Tankstelle abfahrenden Verkehr ohne weiteres die Möglichkeit eröffnete, über diese Lücke auf die Straße einzufahren. Dies gilt insbesondere, weil der Verkehr vor der roten Ampel vollständig zum Halten gekommen war. Denn in einer solchen Situation entspricht es durchaus der Lebenserfahrung, dass sich Fahrzeuge von angrenzenden Tankstellen durch Lücken, die die Fahrzeuge in der Schlange gebildet haben, in den sich stauenden bzw. stockenden Verkehr eingliedern. Der Zweitbeklagte musste daher als derjenige, der selbst die Lücke eröffnet hatte, nicht nur den ausfahrenden Verkehr vom Tankstellengelände beobachten, sondern sich auch vor dem weiteren Anfahren durch geeignete Maßnahmen vergewissern, dass sich keine einfahrenden Fahrzeuge unmittelbar vor seinem Lkw befanden. Dies hat der Zweitbeklagte nicht getan, da er ansonsten – wie auch die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen zur Erkennbarkeit des klägerischen Pkw belegen – den Zeugen … bereits beim Ausfahren aus der Tankstelle erkannt hätte, jedenfalls aber durch einen sorgfältigen Blick in die am Lkw vorhandenen Spiegel hätte erkennen können.
4. Im Rahmen der Haftungsverteilung nach 17 StVG kommt dem Umstand, dass der Zweitbeklagte bevorrechtigt war und der Zeuge … gegen die höchstmögliche Sorgfalt nach § 10 Satz 1 StVO verstoßen hat, entscheidende Bedeutung zu. Die Klägerin trifft danach eine überwiegende Haftung, die die Kammer im Hinblick auf das zu berücksichtigende Mitverschulden des Zweitbeklagten mit einer Quote von 70% bemisst (vgl. Kammer, Urteil vom 31.07.2015 – 13 S 70/15). Diese Haftungsverteilung entspricht auch der ganz überwiegenden instanzgerichtlichen Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (vgl. OLG Hamm NZV 2013, 247 und NJW-RR 2001, 165; KG NZV 2008, 244, jeweils m.w.N.).
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