Der Kläger befand sich auf dem linken von zwei Fahrstreifen in seiner Fahrtrichtung und wollte kurz vor einer Kreuzung nach links in seine Grundstückseinfahrt abbiegen. Der Beklagte, der hinter ihm her fuhr, fuhr dabei auf. Weitere Einzelheiten sind streitig. Das OLG Düsseldorf hat zunächst einen Anscheinsbeweis gegen den in eine Grundstückseinfahrt Abbiegenden, wie ihn das LG Saarbrücken in einem anderen Fall vorgenommen hat, abgelehnt. Den Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden wendet es dagegen auch in dieser Situation an (anders als das OLG Dresden). Das führte zur Alleinhaftung des Beklagten (Urteil vom 26.06.2015, Az. I-1 U 107/14).
1. Ein Verschulden des Klägers ist nicht feststellbar.
a) Der Kläger durfte an der Unfallstelle nach links abbiegen. Denn, wie auf den Lichtbildern in der Ermittlungsakte (Bl. 7 ff., StA Duisburg, 312 Js 1819/12) zu erkennen ist, ist die linke durchgezogene Linie des Linksabbiegerstreifens auf der Höhe der Grundstückseinfahrt unterbrochen.
b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann auch nicht festgestellt werden, dass dem Kläger vor dem Abbiegen ein Fahrfehler unterlaufen wäre. Insbesondere hat sich die Behauptung der Beklagten, der Kläger habe seine Abbiegeabsicht entgegen den Geboten des § 9 Abs. 1 S. 1 StVO nicht rechtzeitig und deutlich angekündigt, sondern plötzlich eine Vollbremsung vollführt, im Rahmen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht bestätigt. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an dieser Feststellung des Landgerichts begründen könnten, liegen nicht vor.
2. Für ein Verschulden des Klägers streitet auch kein Anscheinsbeweis.
a) Das LG Saarbrücken hat allerdings in einer vergleichbaren Konstellation angenommen, dass gegen den in eine Grundstückseinfahrt Abbiegenden aufgrund der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO ein Anscheinsbeweis spreche. Komme es bei dem Abbiegen in ein Grundstück zu einer Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr, habe der Abbiegende typischerweise gegen die ihm obliegende Pflicht, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, verstoßen (LG Saarbrücken, Urteil vom 24.01.2014 – 13 S 168/13)
b) Dem folgt der Senat nicht. Zwar wollte hier der Kläger unstreitig in eine Grundstückseinfahrt einbiegen, so dass ihn die gesteigerte Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO traf, wonach eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein muss. Auch ist es richtig, dass ein gegen den Abbiegenden sprechender Anscheinsbeweis bei einer Kollision des in ein Grundstück Abbiegenden mit dem durchgehenden Verkehr angenommen wird (König in Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 9 StVO Rn. 44; Senat, Urteil vom 20.02.2006 – I-1 U 137/05, Urteil vom 16.02.2004 – 1 U 151/03). Für die hiesige Konstellation des Auffahrunfalls eines nachfolgenden Fahrzeugs auf den Abbieger ist die Annahme eines Anscheinsbeweises gegen den Abbiegenden aber nicht zu rechtfertigen.
aa) Die Anwendung des Anscheinsbeweises für ein Verschulden setzt bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt und dadurch den Unfall verursacht hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (BGH, Urteil vom 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84-90, Rn. 7 juris). Wenn ein nachfolgendes Fahrzeug auf einen Abbieger auffährt, ist ein solcher Tatbestand aber nicht gegeben.
bb) Nach Auffassung des Senats lässt die Lebenserfahrung in diesen Fällen bereits nicht den Schluss auf eine Pflichtverletzung des Abbiegenden zu. Zwar ist dieser nach § 9 Abs. 1 S. 1 StVO gehalten, seine Abbiegeabsicht rechtzeitig und deutlich anzukündigen und dabei auch den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Er muss sich auf der Fahrbahn nach links einordnen und erforderlichenfalls auch seine Geschwindigkeit behutsam verringern. Er ist überdies, wie das Landgericht unter Heranziehung einschlägiger Rechtsprechung zutreffend ausführt (LG Saarbrücken Urteil vom 24.01.2014 – 13 S 168/13, juris Rdn. 20), verpflichtet, den nachfolgenden Verkehr angemessen zu beobachten und notfalls auch den Abbiegevorgang vollständig zurückzustellen. Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass auch bei Beachtung der aus § 9 Abs. 5 StVO folgenden hohen Sorgfaltspflichten, eine Kollision allein deswegen erfolgen kann, weil der nachfolgende Verkehr alle deutlichen Anzeichen für das beabsichtigte Manöver schlicht übersieht oder allein deshalb auf den Abbiegenden auffährt, weil er seinen Pflichten aus § 4 Abs. 1 StVO (Einhaltung eines genügenden Abstands) nicht genügt. Die Auffassung, dass der Auffahrunfall belege, dass (auch) der Abbiegende typischerweise gegen die ihm obliegende Pflicht verstoßen habe (LG Saarbrücken a.a.O. juris Rdn. 20), vermag der Senat danach nicht zu teilen.
cc) Dies gilt umso mehr, als es auch keinen Anschein für die Unfallursächlichkeit einer solchen Pflichtverletzung gibt. Denn die Möglichkeiten des Abbiegers, auf den rückwärtigen Verkehr zu reagieren, sind tatsächlich sehr begrenzt. Insbesondere, wenn er vor dem Abbiegen zum Stehen gekommen ist, erscheint es fraglich, wann er bei einem sich von hinten nähernden Fahrzeug das Bestehen einer Gefahr erkennen können soll und ob er bei dem Erkennen einer Gefahr überhaupt noch wirksam reagieren kann. Von einer typischerweise vorliegenden Verantwortung des Abbiegers für einen Auffahrunfall kann man daher auch aus diesem Grunde nicht die Rede sein.
Im Ergebnis ist also ein schuldhafter Verstoß des Klägers nicht erwiesen.
3. Demgegenüber trifft den Beklagten zu 1) ein Verschulden, für welches die Beklagten als Gesamtschuldner haften.
Gegen die Beklagten spricht insoweit ein Anscheinsbeweis. Denn es ist nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich, dass der Auffahrunfall auf einem schuldhaften Verhalten des Auffahrenden, nämlich zu geringem Abstand, Unaufmerksamkeit oder unangepasster Geschwindigkeit, beruht (König in Hentschel, StVR, § 4 StVO Rn. 35 m.w.N.; Senat, Urteil vom 29.11.2004 – I-1 U 108/04 m.w.N.).
a) Immerhin hat das OLG Dresden aus dem Umstand, dass bei einem Auffahrunfall sowohl gegen den Auffahrenden als auch gegen den in ein Grundstück links Abbiegenden ein Anscheinsbeweis spreche, geschlossen, dass sich die tatsächlichen Vermutungen gegenseitig aufheben, so dass die damit verbundene Beweiserleichterung jeweils entfalle (OLG Dresden, Urteil vom 24.04.2002 – 11 U 2948/01).
b) Dem aber folgt der Senat nicht; denn es gibt aus den oben dargestellten Gründen keine tatsächliche Vermutung für ein Verschulden des Abbiegenden. Dagegen wird der gegen den auffahrenden Hintermann sprechende Anschein durch den Umstand, dass der Vorausfahrende seine Fahrt verzögert hat, um in ein Grundstück einzubiegen, nicht erschüttert. Denn insoweit kommt es auf den Grund der Verzögerung nicht an. Vielmehr gilt der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden selbst dann, wenn der Vorausfahrende hat bremsen müssen (König in Hentschel, StVR, § 4 StVO Rn. 35 m.w.N.), was sogar ein plötzliches starkes Abbremsen mit einschließt (Senat, Urteil vom 12.12.2005 – I-1 98/05).
c) Eine Besonderheit des hiesigen Falles liegt sicherlich darin, dass das Abbiegen in das Grundstück auf einem bis zu einer Kreuzung noch weiterführenden Linksabbiegerstreifen erfolgt ist, was die Vorhersehbarkeit der Absicht des Vordermanns sicherlich erschwerte. So hat die Zeugin E. (Beifahrerin im Beklagtenfahrzeug) ausgesagt, dass sie auch bei eingeschaltetem linkem Blinker des vorausfahrenden Fahrzeugs wahrscheinlich gedacht hätte, dass der Kläger ebenfalls erst an der Kreuzung würde links abbiegen wollen (S. 2 des Protokolls vom 19.03.2014, Bl. 99 GA). Auch auf diese Verkehrssituation hätte sich aber ein aufmerksamer nachfolgender Fahrer durch die Einhaltung von genügendem Abstand und durch erhöhte Aufmerksamkeit einstellen können. Damit ergeben sich keine Besonderheiten in Bezug auf die typische Verursachung des Auffahrenden aufgrund von geringem Abstand, Unaufmerksamkeit oder unangepasster Geschwindigkeit.
d) Auch in der Rechtsprechung anerkannte Fälle des Fehlens der Typizität der Unfallkonstellation sind hier nicht einschlägig (z.B. Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall; Fehlen von Teilüberdeckung von Heck und Front; vgl. zu weiteren Fällen: König in Hentschel, StVR, § 4 StVO Rn. 36).
e) Damit sind insgesamt keine Tatsachen erwiesen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt. Auch hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass der Beklagte zu 1) ausreichenden Abstand und eine angemessene Geschwindigkeit eingehalten sowie hinreichend aufmerksam gefahren wäre. Somit ist im Ergebnis die Feststellung zu treffen, dass der Unfall auf einem schuldhaften Verstoß des Beklagten zu 1) beruhte.
4. Steht aber fest, dass der Unfall allein durch den Beklagten zu 1) verursacht wurde und dem Kläger kein Sorgfaltspflichtverstoß nachzuweisen ist, haften die Beklagten allein für die dem Kläger entstandenen Schäden. Die einfache Betriebsgefahr kann hinter einem groben Verschulden des Gegners vollständig zurücktreten, z.B. beim Auffahren auf den Vorausfahrenden, ohne dass dieser seine Fahrlinie geändert oder unzulässig gebremst hätte (König in Hentschel, StVR, § 17 StVG Rn. 16 m.w.N.). Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs tritt hier daher vollständig hinter dem alleinigen Verschulden des Auffahrenden zurück. Zu keinem anderen Ergebnis führt der Umstand, dass der Kläger auf einem Linksabbiegerstreifen noch vor dem Kreuzungsbereich in ein Grundstück abbog, was sicherlich die Absicht seines frühen Abbiegens selbst bei eingeschaltetem linkem Fahrtrichtungsanzeiger schwieriger machte. Es handelte sich hierbei aber – wie ausgeführt – um einen zulässigen Abbiegevorgang, auf den sich der nachfolgende Beklagte zu 1) durch das Einhalten eines ausreichenden Sicherheitsabstandes entsprechend hätte einstellen können und müssen.
II. Der Senat lässt aufgrund der Abweichung von den in den o.g. Urteilen aufgestellten Rechtssätzen gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO die Revision zu.
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