Abgesehen von der Überlassung ganzer Messreihen an Betroffene oder deren Verteidiger bzw. Sachverständige führt auch die Überlassung an einen gerichtlich bestellten Sachverständigen zu einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der anderen gemessenen Verkehrsteilnehmer. Das LG Konstanz hatte sich mit der Problematik in einer verfahrensrechtlich etwas ungewöhnlichen Situation zu befassen und Datenschutzbedenken verneint.

Das AG beauftragte einen Sachverständigen mit der Überprüfung einer Geschwindigkeitsmessung und gab der Verwaltungsbehörde auf, die Messdaten an diesen herauszugeben, da er angab, eine sichere Aussage zum Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens anders nicht treffen zu können. Hiergegen wandte sich die Verwaltungsbehörde mit einer Beschwerde, in der sie ausführte, ein Einsichtsrecht in die gesamte Messreihe existiere nicht. Es sei gegenüber der Behörde tatsachenfundiert vorzutragen, warum diese benötigt werde und dabei auf die Daten Dritter zurückgegriffen werden müsse. Der Sachverständige möge seine begehrte Einsicht auf der Dienststelle nach Terminsvereinbarung durchführen. Die Rohdaten könne er auf einem Bildschirm einsehen, auf dem Behördenmitarbeiter Kennzeichen etc. mit einem “Post-It” abkleben könnten (!).

Das LG wies die Beschwerde – bei gewissen Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen Aufklärungsmaßnahmen des Gerichts (vgl. § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 OWiG) im Hinblick auf § 305 Satz 1 StPO – als jedenfalls unbegründet zurück. Das Bestehen eines Einsichtsrechts sei in der Rechtsprechung umstritten, wobei sich die Kammer der wohl herrschenden, ein Einsichtsrecht bejahenden Auffassung anschließe. Zudem gehe es nicht um die Einsicht eines Betroffenen oder Verteidigers, der die Daten einem Privatgutachter übergebe, sondern an einen vom Gericht bestellten „neutralen“ Sachverständigen. Einsichtsfragen von Betroffenen stellten sich also gar nicht und es genüge, dass der Sachverständige angebe, die Überprüfung der Messreihe für erforderlich zu erachten. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht von Dritten sei als nicht sehr hoch zu bewerten; eine Weitergabe von Daten durch den Sachverständigen nicht zu befürchten. Zudem sei eine Einsichtnahme in den Behördenräumen für Sachverständige nicht praktikabel.

LG Konstanz, Beschluss vom 18.09.2018 – 4 Qs 57/18

Die Beschwerde des Landratsamtes B. gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 22.06.2018 wird kostenpflichtig als unbegründet zurückgewiesen.

G r ü n d e :

I.

Beim Amtsgericht ist gegen den Betroffenen ein Bußgeldverfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 23 km/h) anhängig. Nachdem die Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung durch den Betroffenen bestritten worden ist, hat das Amtsgericht einen Sachverständigen zur Überprüfung der Richtigkeit der Messung zum anberaumten Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2018 geladen.

Mit Beschluss vom 22.06.2018 verpflichtete das Amtsgericht das Landratsamt B., dem Sachverständigen Dipl.-Ing. S. die Daten der gesamten Messreihe, zu der die Messung des Betroffenen vom 19.02.2018 gehört, herauszugeben. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Sachverständige mitgeteilt habe, es sei ohne Beiziehung der gesamten Messreihe nicht möglich, eine sichere Aussage darüber zu treffen, ob es sich bei einer Messung um ein standardisiertes Messverfahren handele oder nicht. Zur Klärung dieser entscheidenden Frage sei es daher unverzichtbar, auf die gesamte Messreihe und nicht nur auf die hinsichtlich des Betroffenen bestehende Datei zugreifen zu können.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beschwerde des Landratsamtes B. vom 26.06.2018. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das für die „eigene“ Falldatei geltende Einsichtsrecht bei der Verwaltungsbehörde, für die gesamte „Messreihe“ nicht gelte. Es sei gegenüber der Verwaltungsbehörde tatsachenfundiert vorzutragen, warum die gesamte Messreihe benötigt und dabei in die grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte Dritter eingegriffen werden solle. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zudem verletze die Verarbeitung von Bildern auf einem Datenträger der nicht Verfahrensbeteiligten und Betroffenen ohne deren Zustimmung vorliegend „34 Dritte“ in deren Rechten, da es sich um deren personenbezogene Daten handele. Die amtlichen Kennzeichen der Fahrzeuge sowie die Standortdaten nebst dem Fahrer und ggf. Beifahrer (Dritte) seien auf den Bildern zu erkennen, die zu schützen seien. Der Datenschutz könne gewährleistet werden, soweit der Sachverständige die Einsicht auf der Dienststelle der Verwaltungsbehörde nach Terminsvereinbarung durchführe. So könnten die Rohdaten auf einem Bildschirm eingesehen werden. Auf diesem könnten die personenbezogenen Daten z. B. mit einem „Post-It“ abgeklebt werden, so dass die Daten nicht einem für die Verwaltungsbehörde nicht nachweisbaren Personenkreis bekannt würden. Die personenbezogenen Daten Dritter seien zur Bewertung der Messung für den Sachverständigen nicht erforderlich. Wegen der Einzelheiten wird auf die Begründung im Schriftsatz vom 26.06.2018 Bezug genommen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Beschwerdeschriftsatz vom 26.06.2018 (AS 107 ff) Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat die Akten zur Entscheidung über die Beschwerde der Kammer vorgelegt.

II.

Es ist bereits fraglich, ob die Beschwerde des Landratsamtes B. gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 22.06.2018 zulässig ist. Gemäß § 71 Abs. 2 Nr. 2 OWiG kann das Amtsgericht zur besseren Aufklärung der Sache von Behörden oder sonstigen Stellen die Abgabe von Erklärungen über dienstliche Wahrnehmungen, Untersuchungen und Erkenntnisse verlangen. Dies hat das Amtsgericht durch den angefochtenen Beschluss dementsprechend getan. Die vom Gericht nach § 72 Abs. 2 Satz 1 OWiG getroffenen Anordnungen unterliegen als Entscheidungen des erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgehen, in entsprechender Anwendung von § 305 Satz 1 StPO grundsätzlich nicht der Beschwerde. Dies gilt nach § 305 Satz 2 StPO allerdings nicht für Entscheidungen, durch die dritte Personen betroffen werden. Es kann hier aber letztlich dahingestellt bleiben, ob die Bußgeldbehörde, die am gerichtlichen Verfahren nicht unmittelbar beteiligt ist, aber von der Anordnung des Gerichts betroffen wird, als „dritte Person“ im Sinne von § 305 StPO anzusehen ist, denn ihre Beschwerde ist jedenfalls aus Sicht der Kammer nicht begründet.

Ob generell ein Einsichtsrecht in die kompletten Messdaten einer Messreihe besteht, ist in der Rechtsprechung umstritten. Von der nunmehr wohl herrschenden Rechtsprechung wird dies bejaht (vgl. AG Wittlich, Beschluss vom 06.08.2018 – 36b OWi 8011 Js 21030/18 jug, BeckRS 2018, 18700; AG Detmold Beschluss vom 19.06.2018 – 4 OWi 779/18, BeckRS 2018, 13955; AG Neumünster, Beschluss vom 17.05.2018 – 224 OWi 109/18, BeckRS 2018, 13759; AG Daun Beschluss vom 04.04.2018 – 4a OWi 28/18, BeckRS 2018, 5541; AG Saarburg Beschluss vom 01.02.2018 – 8 OWi 1/18, BeckRS 2018, 3969; LG Trier Beschluss vom 14.09.2017 – 1 Qs 46/17 -, juris; LG Neubrandenburg, Beschluss vom 30.09.2015 – 82 Qs 112/15, BeckRS 2015, 20027). Ein Recht auf Einsicht – auch in die gesamte Messserie – wird dabei aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens hergeleitet. Zur Begründung wird meist ausgeführt, dass bei Geschwindigkeitsmessungen mit standardisierten Messverfahren durch die Physikalisch-Technische-Bundesanstalt (PTB) im Wege eines antizipierten Sachverständigengutachtens die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt worden sei. Der Betroffene müsse daher, wenn er die Richtigkeit der Messung angreifen wolle, im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte darlegen, die für eine Unrichtigkeit der Messung sprechen. Ein solcher dezidierter Vortrag sei dem Betroffenen jedoch nur dann möglich, wenn er – bzw. sein Verteidiger – auch Zugang zu den entsprechenden Messunterlagen habe. Das LG Trier führt aus, dass nicht verlangt werden könne, dass bereits vor Einsicht in die Messserie konkrete Mängel vorgetragen werden, da sich bestimmte Fehlerquellen erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können. Zudem könnten ggf. erst anhand der weiteren Falldaten der Messreihe Fehler aufgedeckt werden, die allen Messungen der Messserie anhaften, aber aus der konkreten Messung beim Betroffenen nicht ersichtlich seien (LG Trier a. a. O.). Datenschutzrechtliche Bedenken werden mit der Begründung verneint, dass zwar die Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe auch die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer beträfe, dieser Eingriff jedoch hinzunehmen sei. Der Anspruch auf ein faires Verfahren sei insoweit höherrangig, zumal es sich um einen relativ geringfügigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter handele und mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie zwar Foto und Kennzeichen übermittelt würden, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift.

Die Gegenansicht lehnt eine Herausgabe der gesamten Messserie meist mit der Begründung ab, dass nicht tatsachenfundiert vorgetragen worden sei, warum die gesamte Messreihe benötigt werde und dabei in grundrechtlich geschützte Rechte Dritter eingegriffen werden solle (vgl. AG Schwelm, Beschluss vom 27.02.2018 – 64 OWi 66/18, BeckRS 2018, 4119; AG Kassel Beschluss vom 13.02.2018 – 386 OWi 58/18, BeckRS 2018, 2191, AG Aalen, Beschluss vom 24.08.2017 – 12 OWi 204/17, BeckRS 2017, 128112 sowie entsprechend OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.08.2016 in NStZ-RR 2016, 320).

Die Kammer schließt sich der vorgenannten wohl herrschenden Rechtsprechung in vorliegendem Fall an, zumal es hier nicht – wie in den vorgenannten Entscheidungen – um die Herausgabe von Daten der Messserie an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger oder an einen von ihm beauftragten „Privatgutachter“ geht, sondern um die Herausgabe an einen vom Gericht bestellten „neutralen“ Sachverständigen, der dem Gericht gegenüber, wie sich aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses ergibt, mitgeteilt hat, dass es ohne Beiziehung der gesamten Messreihe nicht möglich sei, eine sichere Aussage darüber zu treffen, ob es sich bei einer Messung um ein standardisiertes Messverfahren handele oder nicht. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich das Gericht mit Einwänden gegen die Geschwindigkeitsmessung auseinanderzusetzen hat und ob es einem Antrag des Betroffenen auf Einsicht in die komplette Messreihe nachkommen muss, um die es in der von der Bußgeldbehörde zitierten Entscheidung des OLG Frankfurt geht (OLG Frankfurt a. a. O.), stellt sich hier nicht. Das Amtsgericht hat auf die Einwände des Betroffenen einen Sachverständigen beauftragt, welcher gerade die Überprüfung der Messreihe für erforderlich erachtet.

Der Herausgabe der Daten der Messserie an den gerichtlich bestellten Sachverständigen stehen aus Sicht der Kammer auch keine datenschutzrechtlichen Bedenken entgegen. Die Kammer schließt sich auch insoweit der oben dargestellten wohl herrschenden Meinung in der Rechtsprechung an, zumal eine Weitergabe der Daten durch den Sachverständigen nicht zu befürchten ist. Zu sehen ist des Weiteren, dass die auf der Messserie abgebildeten Personen sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und auch der Kontrolle ihres Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei ausgesetzt haben (vgl. BVerfG NJW 2011, 2783 ff.). Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist daher nicht sehr hoch zu bewerten, zumal das Risiko, zufällig von dem Sachverständigen oder einem sonstigen Prozessbeteiligten erkannt zu werden, recht gering erscheint.

Soweit seitens der Bußgeldbehörde angeboten wird, im Hinblick auf den Datenschutz Einsicht in die Daten der Messreihe nur auf der Dienststelle der Verwaltungsbehörde nach Terminvereinbarung zu gewähren, erscheint dies zumindest für den Sachverständigen nicht praktikabel, da dieser die Daten in der Regel in der Form benötigt, dass sie ihm in seinem Büro zur Verfügung stehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich auf den Rechnern der Bußgeldbehörde die Softwareprogramme befinden, mit denen der Sachverständige die Messdaten überprüfen kann; auch kann dieser sein Gutachten am Computer der Ordnungsbehörde wohl nicht erstellen.

Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge aus entsprechender Anwendung von § 473 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG zurückzuweisen.